«In einer Krise werden Kräfte wie die SVP zu einer besonderen Belastung»

Tagesanzeiger.

Interview mit Politologin zu Corona-Protesten. Natascha Strobl glaubt, dass die Proteste die Pandemie überdauern werden. Sie sagt, in welcher Tradition Massnahmengegner stehen – und wann sie für Demokratien zum Problem werden.

Frau Strobl, haben Sie schon mal etwas von den Freiheitstrychlern gehört?

Bitte was?

Trycheln, also das Schwingen von Kuhglocken, gehört eigentlich zum Schweizer Brauchtum. In der Pandemie inszenieren sich die vehementen Gegner von Corona-Massnahmen mit diesen Glocken. Wie passt das zusammen?

Ach ja, doch, die sind mir auch schon aufgefallen. Ich kannte bloss den Begriff nicht. Es gibt dieses Phänomen in ähnlicher Form auch in anderen Ländern: Gruppen von Menschen, die mit Verweis auf die Tradition, das Brauchtum oder die Landesfarben gegen Corona-Massnahmen ankämpfen.

Wie erklären Sie sich das?

Es ist tatsächlich ein interessanter Gegensatz. Man könnte ja auch ganz anders argumentieren: dass es einer patriotischen Gesinnung entspricht, auf seine Landsleute zu achten und sie vor der Pandemie zu schützen. Meist wird aber umgekehrt suggeriert, dass Schutzmassnahmen unamerikanisch, unösterreichisch oder unschweizerisch seien. Und damit sind wir schon bei einem Muster, das vor der Pandemie begann.

Welches Muster?

Es handelt sich um eine traditionelle Erzählung der extremen Rechten: Hier wird dem Volk etwas aufoktroyiert, das gegen die Interessen des Volkes ist. Hier wird die Nation geknechtet durch eine Elite, die mit äusseren Mächten verbündet ist oder durch sie gesteuert wird. Man sah das in Europa schon 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Damals war viel die Rede von einem sinistren Netzwerk, das die Fluchtbewegungen nach Europa lenke. Diese Erzählung ist häufig wie ein Lückentext, in den man einfüllt, was gerade aktuell ist. Was damals George Soros war, ist heute Bill Gates. Die Verwendung von Brauchtum und Tradition hilft dabei, Kreise anzusprechen, die man sonst nicht erreicht hätte.

Die Freiheitstrychler besuchten im November Ihren Wohnort Wien – und traten dort an Protesten auf, an denen nicht nur Neonazis und Konservative, sondern auch viele Leute der Esoterikszene auftraten. Was eint diese Menschen?

Das ist nicht eine Gruppe, man muss eher von Allianzen sprechen. Manchmal bilden sich lose Gruppen um einzelne Influencer, manchmal um Freundeskreise, die sich online kennen gelernt haben. Und so setzt sich die Bewegung Stück für Stück zusammen. Wir haben es also nicht mit einer klassischen Form der politischen Organisation zu tun. Diese Leute haben aber offensichtlich kein Problem damit, zusammen aufzutreten, weil sie im Kern schon eine gemeinsame Gesinnung haben: Es gibt in diesen Kreisen einen unverhohlenen Sozialdarwinismus.

Wie äussert sich dieser?

In der Vorstellung, dass Menschen, die keinen reinen Körper haben, weniger wert sind. Dass irgendwie selbst schuld ist, wer mit diesem Virus nicht zurechtkommt. Wer daran stirbt, der stirbt halt. Dieser Sozialdarwinismus ist im völkischen Denken ganz wichtig, aber auch im esoterischen. Denn man darf nicht vergessen: Die ursprüngliche Ideologie der Esoterik ist weit mehr als irgendein Ökokram auf dem Teleshopping-Kanal. Es mag also kurios aussehen, wenn Identitäre an der Seite von Schamanentänzerinnen und Ponchoträgern demonstrieren, doch ideologisch gibt es da durchaus einen gemeinsamen Bezugspunkt.

Man könnte entgegnen: Diese Corona-Protestbewegungen sind einfach Ausdruck einer lebendigen Demokratie.

Natürlich könnte man sagen: Es ist egal, wer in einer Demokratie protestiert, das gehört dazu. Doch ich finde schon, dass man sich auch genau anschauen sollte, was diese Leute politisch wollen. Ich nehme sie politisch ernst. Und ich sehe darin keine Bewegung, die einer lebendigen Demokratie Ausdruck verleihen will. Sondern ich sehe bei denen, die auf die Strasse gehen, oft rechtsextremes und antidemokratisches Gedankengut. Es ist kein Zeichen einer lebendigen Demokratie, wenn in Dresden Neonazis auf die Strasse gehen oder politische Verantwortliche zu Hause bedroht werden.

Werden diese Bewegungen die Pandemie überdauern?

Auf jeden Fall. Die Pandemie hat diese Bewegungen befeuert, ihnen zu neuen Anhängern verholfen. Doch in der Anlage begannen sie schon früher. In Deutschland sahen wir ähnliche Allianzen schon bei den Montagsmahnwachen. Das ging dann zu den Pegida-Demonstrationen über und wandelte sich zu Protesten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Natürlich fallen da Gruppen weg, neue Gruppen kommen hinzu. Aber einen diffusen Kern scheint es zu geben. Und dort, wo es in einen organisierten Bereich hineingeht, sieht man auch immer wieder dieselben Akteure am Werk.

In der Pandemie haben die Behörden in vielen Ländern Massnahmen ergriffen, die bis anhin undenkbar waren. Ist es nicht nachvollziehbar, wenn ein Teil der Bevölkerung aufbegehrt?

Doch, das bestimmt. Diese Pandemie ist ja wie ein Katastrophenfilm. Ich glaube, alle von uns haben in dieser Zeit einmal Angst, Frust und Wut verspürt. Doch es geht dieser Bewegung nicht darum, über einzelne Massnahmen zu streiten. Diese Leute wollen keine Impfung, keine Masken, sie wollen keine Tests für Kinder, sie wollen keine Schutzmassnahmen in den Schulen. Sie bezichtigen das Personal in den Krankenhäusern der Lüge, sie bezichtigen die Virologen der Lüge. Das ist insgesamt eine sehr schwierige Ausgangslage für ein Gespräch. Ihre Idee ist, das Virus einfach durch die Bevölkerung durchrauschen zu lassen und dann zu schauen, was passiert. Ein menschenverachtendes Experiment.

Sie leben in Österreich, wo die Regierung zuletzt einen scharfen Lockdown verhängte. Wie erging es Ihnen dabei?

Es war bei uns ein grosses Hin und Her. Zuerst wurde die Pandemie vorschnell für beendet erklärt, dann ging es plötzlich in die andere Richtung. Die österreichische Regierung hat es nie geschafft, eine Geschwindigkeit beizubehalten. Mit einer solchen Kommunikation verliert man viele Menschen. Und damit meine ich nicht nur die vehementen Gegner von Massnahmen. Es gibt auch die andere Seite: das Krankenhauspersonal etwa, das nicht mehr mag, aber nach einer 12-Stunden-Schicht halt keine Zeit hat, auf die Strasse zu gehen. Oder die Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen, die zu wenig geschützt werden.

Sowohl die Schweiz als auch Österreich haben mit der SVP und der FPÖ starke rechte Parteien, die den Corona-Kurs der Regierung torpedieren.

In Österreich leben wir ja schon sehr lange mit der FPÖ, ebenso wie die Schweiz mit der SVP. Und es sollte eigentlich niemanden mehr verwundern, wie die beiden Parteien agieren. Aber in einer Krisensituation werden solche Kräfte nochmals zu einer besonderen Belastung. Wenn die Gesundheitssprecherin der FPÖ, die notabene eine Ärztin ist, sich hinstellt und wider alle Tatsachen behauptet, dass die Intensivstationen voller Opfer von Impfschäden seien, ist man schon mittendrin in der Verschwörungs- und Desinformationsszene. Nur sitzen diese Leute im Parlament.

Was macht das mit dem politischen Klima im Land?

Es schadet der Demokratie. Es geht dabei ja nicht mehr um unterschiedliche Meinungen. Es geht darum, dass politische Kräfte Desinformation und Lügen legitimieren. Wenn man das zulässt, lösen sich alle Parameter auf, nach denen Politik funktioniert. Dann ist alles erlaubt.

Ihr Buch über «radikalisierten Konservatismus» ist in diesem Herbst auf grosses Echo gestossen. Was verstehen Sie unter dem Begriff?

Radikalisierter Konservatismus beschreibt eine Dynamik innerhalb von konservativen Parteien. Früher, das heisst nach dem Krieg, waren die konservativen Parteien ein Stabilitätsfaktor, gemeinsam mit den Sozialdemokratinnen auf der anderen Seite. Dieses Kräftegleichgewicht nährte sich aus dem Versprechen nach Wohlstand – dass es jeder Generation besser gehen wird, wenn man zusammenarbeitet, fleissig ist, sich bildet.

Und dieser Konsens ist heute zerbrochen.

Ja. Das Aufstiegsversprechen wird schon seit einiger Zeit nicht mehr eingelöst. Nun werden die Folgen spürbar, weil jetzt jene Generationen nachrücken, für die es gar nicht mehr galt.

«Viele konservative Parteien übernehmen Strategien und Narrative der extremen Rechten.»

Sie haben Jahrgang 1985. Zählen Sie sich selbst dazu?

Meine Generation ist gerade auf der Kippe. Aber jene, die jünger sind als ich, sind schon in einer ganz anderen Welt aufgewachsen, fernab von der Idee, von 9 bis 17 Uhr zu arbeiten und möglicherweise das Leben lang im selben Job zu bleiben. Sie leben in einer komplett liberalisierten, globalisierten und prekarisierten Arbeitswelt, die das Versprechen auf mehr Wohlstand zur Illusion werden lässt. Diese Menschen wenden sich vom alten Konsens ab und von den Parteien, die ihn lange Zeit vertraten. Und entsprechend verlieren diese Parteien an Zuspruch.

Und wie reagieren die konservativen Parteien darauf?

Indem sich Teile von ihnen radikalisieren. Viele dieser Parteien – die Republikaner in den USA, die ÖVP von Sebastian Kurz in Österreich, aber auch andere – übernehmen Strategien und Narrative der extremen Rechten. Leute wie Kurz und Donald Trump haben gemerkt, dass das alte Gefühl der Sicherheit dahin ist – und sie versuchen, ihm ein neues entgegenzusetzen. Nicht mit einem detaillierten politischen Programm oder mit einem möglichst überzeugenden Auftreten, sondern mit dem aggressiven Bewirtschaften eines Gefühls, das auf die ständige Polarisierung zielt. Bei Kurz lief das so, dass er immer alle Themen und Probleme mit der Migration verknüpfte.

Eine Methode der radikalisierten Konservativen sei der «bewusste Regelbruch», sagen Sie. Was meinen Sie damit?

Es ist der Versuch, mit dem ständigen Bruch von geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des politischen Betriebs so zu tun, als sei die eigene Partei gar nicht Teil des Systems, als stehe sie ausserhalb des Establishments. Die öffentliche Empörung über den Regelbruch ist dabei immer schon einkalkuliert. Denn sie hilft diesen Akteuren wiederum, bei ihren eigenen Fans Entschlossenheit zu markieren: Seht her, wir stehen in der Kritik des politisch-medialen Systems, des Sumpfs – und lassen uns davon nicht beeindrucken. Die Empörung der anderen wird dann gerade zum Beleg dafür, dass die eigene Seite alles richtig macht.

In der Schweiz liess sich ein Regierungsmitglied der SVP kürzlich in einem T-Shirt der Freiheitstrychler fotografieren. Auch da: grosse Empörung.

Ja, das ist derselbe Mechanismus. Wenn ein Politiker so etwas macht, signalisiert er: Ich sitze zwar vielleicht dort in der Regierung, aber ideologisch gehöre ich zu euch. Ich bin nicht Politiker, sondern Teil eurer Bewegung. Die Empörung darüber hilft ihm dann nur. Und natürlich spielt auch Eitelkeit immer eine Rolle – die Freude daran, wenn alle über einen sprechen.

«Das Schweizer Abstimmungsresultat zeigt, dass die Gesellschaft viel weniger polarisiert ist, als man vielleicht glaubt.»

Sie schreiben auch: «Eine Lüge ist eine Lüge, aber eine Lüge, die ohne Konsequenzen wiederholt wird, wird zur Wahrheit.» Ist das Desinformation als politische Waffe?

Nichts gegen mediale Faktenchecks, die sind wichtig und gut. Aber wenn politische Akteure merken, dass es keine Konsequenzen hat, wenn sie offensichtliche Lügen auf grosser Bühne wiederholen, sind diese Faktenchecks wirkungslos. Leute wie Trump und Kurz haben das begriffen und sich das zunutze gemacht. Es müsste eine politische Konsequenz fürs Lügen geben. Insbesondere wenn dabei ein gesundheitlicher Schaden entsteht, wie es in dieser Pandemie der Fall ist, wenn Politiker zum Beispiel Entwurmungsmittel als Corona-Therapie empfehlen.

In der Schweiz sagten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zweimal Ja zum Covid-Gesetz, das die hiesigen Corona-Massnahmen stützt – zuletzt Ende November mit rund 62 Prozent. Finden Sie das viel oder eher wenig?

Es zeigt, dass die Gesellschaft viel weniger polarisiert ist, als man vielleicht glaubt. Es gibt keine 50-50-Spaltung. Das zeigt, dass es auch in einem so aufgeheizten Klima auf demokratische Art und Weise Mehrheiten für einen Katalog von Massnahmen geben kann – trotz massivem Widerstand. Das ist schon mal interessant.

Und was sagt es über den Widerstand aus?

Es ist Aufgabe für eine sozialwissenschaftliche Studie, herauszufinden, wer die 38 Prozent sind, die das Gesetz abgelehnt haben. Aber sicher sind das nicht alles Corona-Leugner und radikale Massnahmengegner, die auf die Strasse gehen.

Bei den Schweizer Massnahmengegnern lassen sich seit der Abstimmung Spaltungstendenzen beobachten. Überrascht Sie das?

Nein, das ist die Natur dieser diffusen Allianzen. Sie werden rasch sehr gross, solange der Zuspruch da ist – aber sobald der Erfolg ein bisschen nachlässt, wird gestritten. Denn sie sind naturgemäss eben keine stabilen Gebilde, sondern eine Ansammlung verschiedener Interessen, vieler Befindlichkeiten, grosser Egos. Das Resultat der Abstimmung hat zumindest teilweis ihr Geschäftsmodell kaputtgemacht. Sie mussten merken, dass sie eben nicht für die schweigende Mehrheit stehen.

Kann man diese Menschen wieder ins Boot holen?

Ja, es ist das Allerwichtigste, die Menschen ins Boot zu holen, die noch zu erreichen sind. Aufgabe der Politik sollte es überall sein, sich auf den grossen Anteil jener zu konzentrieren, die für ein Argument oder für Fakten noch zu gewinnen sind.

Und wie kann das gelingen?

Indem man auf Augenhöhe mit ihnen kommuniziert. Und indem man wirklich zu verstehen versucht, was ihre Motivationen sind. Wenn man sich die Impfskepsis anschaut, dann gibt es Gruppen, die sich durchaus erreichen lassen. Zum Beispiel die vielen jungen Frauen im gebärfähigen Alter, die Angst haben, dass sie nicht schwanger werden können, oder die schon schwanger sind und Angst haben, dass durch die Impfung etwas mit der Schwangerschaft passiert. Da hilft es sicher, wenn nicht irgendwelche Männer in grauen Anzügen mit ihnen reden. In Österreich haben wir das Glück, dass zwei Ärztinnen, die selber schwanger waren, sehr viel in den sozialen Medien informieren. Oft ist es am einfachsten, Vertrauen zu schaffen durch Personen, die keine Politikerinnen sind.