«Ganz ruhig», sagte der Bahnarbeiter zu Nzoy. «Setz dich.» Dann kam die Polizei angerannt

Republik.

In Morges erschiesst die Polizei einen Schwarzen. Danach sagt sie, die Hautfarbe habe keine Rolle gespielt. Doch die Funk­sprüche der Beamten erzählen eine andere Geschichte. Die Rekonstruktion eines fatalen Polizeieinsatzes.

Vier Schwarze starben in den letzten fünf Jahren in der Waadt bei Polizei­einsätzen. Einer wurde bei der Verhaftung erstickt; einer starb in Polizei­gewahrsam; zwei wurden mit jeweils drei Schüssen getötet.

«À qui le tour?» stand auf Transparenten, die an Trauer­märschen und antirassistischen Kund­gebungen in den letzten Jahren zu sehen waren: «Wer kommt als Nächstes dran?»

Roger Nzoy traf es am 30. August dieses Jahres am Bahnhof Morges.

Der 37-jährige Mann aus Zürich litt an psychischen Problemen und war an jenem Montag­abend zur Stosszeit auf den Gleisen herumspaziert. Jemand verständigte die Polizei. Als diese eintraf, eskalierte die Situation: Nzoy rannte auf einen Polizisten zu, dieser schoss dreimal auf ihn. Laut Polizei hatte Nzoy zuvor ein Messer gezogen.

Das Drama von Morges schlug Wellen. In mehreren Städten fanden Kund­gebungen gegen Polizei­gewalt, Mahn­wachen und Trauer­märsche statt.

Der Tod von Roger Nzoy erinnert an einen anderen, fast identischen Fall: Im November 2016 erschoss ein Polizist in Bex den kongolesisch­stämmigen Hervé Mandundu vor dessen Wohnungs­tür. Nach vier Jahren Straf­untersuchung stand der Polizist Anfang dieses Jahres wegen Mordes vor Gericht. Der Prozess endete mit einem Freispruch: Der Polizist habe in Notwehr gehandelt; das Opfer sei mit einem Messer auf den Polizisten losgegangen. Das Urteil wurde weiter­gezogen, ist noch nicht rechtskräftig.

«Ich hatte keine Wahl», sagte damals der Polizist, der Mandundu tötete.

«Ich hatte keine Wahl», sagt auch der Polizist, der im Sommer in Morges den Zürcher Roger Nzoy erschoss.

Diese Aussage tätigte der Polizist laut Westschweizer Fernsehen RTS in einer ersten polizeilichen Einvernahme gleich nach der Tat. Sie offenbart die Verteidigungs­linie der Polizei. Nicht sie habe Fehler gemacht, die Lage eskaliert und letztlich mit exzessiver Gewalt reagiert. Die Schuld liege vielmehr beim aufgebrachten Mann, der vier ausgebildete und bewaffnete Polizisten derart in Bedrängnis gebracht habe, dass ihnen nichts anderes übrig geblieben sei, als die Waffe auf ihn abzufeuern. Die Erschiessung wäre somit keine Straftat, sondern legitime Notwehr.

Doch es gibt – nicht zum ersten Mal – gute Gründe, an den Darstellungen der Polizei zu zweifeln.

Sind Polizisten wirklich «farbenblind»?

«Die Hautfarbe ist egal», sagte Clément Leu, der Kommandant der Regional­polizei Morges, kürzlich in der «Rundschau» von SRF. «Die Hautfarbe hatte keinerlei Einfluss», sagte der Kommandant auch dem Westschweizer Fernsehen RTS.

Auf die Nachfrage des Westschweizer Fernseh­moderators, ob er sich wirklich sicher sei, dass die Haut­farbe keine Rolle gespielt habe, ob er das auch den betreffenden Polizisten gefragt habe, antwortet der Kommandant: Er habe natürlich mit dem Polizisten über den Fall gesprochen. Aber dabei sei nicht über die Haut­farbe des Opfers geredet worden. Entscheidend sei vielmehr die Gefahr gewesen, die von dieser Person ausgegangen sei, vom Messer, das sie auf sich getragen habe. «Die Person kann asiatischer Herkunft sein, afrikanisch oder weiss», sagte der Kommandant im Fernsehen. «Das hat keinen Einfluss auf die Einschätzung der Situation.»

Kann diese Aussage stimmen? Sind Polizisten in ihrem Arbeits­alltag wirklich «farbenblind», wie es der Kommandant der Regional­polizei Morges darstellte? Oder ist das nicht eher Wunsch­denken?

Evelyn Wilhelm, die Schwester des Opfers, hält die Beteuerungen des Kommandanten für lachhaft. Sie sagt: «Dann hätte man ihn nicht so behandelt.»

In den Monaten vor seinem Tod wohnte Nzoy immer wieder bei seiner Schwester. Im Gespräch mit der Republik sagt sie, ihr Bruder sei sein ganzes Leben lang mit stereotypen Vorstellungen der Polizei konfrontiert gewesen. Ständig sei er kontrolliert worden. An gewissen Orten, etwa am Haupt­bahnhof Zürich, wollte er sich lieber nicht mit ihr treffen, weil ihn sonst die Polizei wieder heraus­gefischt hätte. Roger Nzoy, der Sohn einer schwarzen Südafrikanerin und eines weissen Schweizers, habe immer den Schweizer Pass in der Hosen­tasche getragen, weil er sich so oft ausweisen musste.

Allgemein gilt: Die vielfach dokumentierten Erfahrungen von Betroffenen mit den Sicherheits­behörden widersprechen der Darstellung der Polizei klar. Aber empirische Daten zum sogenannten racial bias in Polizei­korps sind rar.

Selbst in den USA, wo jedes Jahr rund 1000 Menschen von der Polizei getötet werden, fehlt es an vergleichbaren Daten, die Aufschluss über den racial bias von Polizisten geben. Trotzdem gibt es einige Erkenntnisse darüber, wie ungleich Weisse und Schwarze behandelt werden: So ist etwa die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei getötet zu werden, für Schwarze in den USA zweieinhalbmal so hoch wie für Weisse. Eine Analyse von zwei Millionen Polizei­notrufen in zwei US-Städten zeigte, dass weisse Polizisten in von Schwarzen bewohnten Quartieren fünfmal so oft schiessen wie schwarze Polizisten in denselben Gegenden.

In Europa, in der Schweiz insbesondere, ist die Ausgangslage eine ganz andere: Die Bevölkerungs­strukturen sind nicht vergleichbar, Polizei­gewalt ist hierzulande viel seltener, die Daten dazu noch spärlicher als in den USA. Generelle Aussagen sind also nur schwer haltbar. In Einzel­fällen gibt es jedoch häufig klare Hinweise darauf, dass rassistische Vorurteile Einfluss auf das Verhalten von Polizisten haben.

Diese Vorurteile sind den Akteuren nicht immer bewusst. Die wenigsten wollen eingestehen, dass sie vor Rassismus nicht gefeit sind. Wie schnell aber rassistische Vorurteile zu Verzerrungen der Wirklichkeit führen, zeigte sich im Fall Morges etwa an der Darstellung der Ereignisse in den ersten Medien­berichten.

In Berichten, die kurz nach den Geschehnissen erschienen, ordneten beispiels­weise der «Blick» und andere die Erschiessung von Nzoy nicht etwa als Fall von Polizei­gewalt ein, sondern vorschnell als Abwehr eines jihadistischen Attentats.

«C’est un homme de couleur»

Das Bild des verrückten Messer­drohers, sagt Evelyn Wilhelm, bestehe auch ein halbes Jahr nach der Erschiessung ihres Bruders. Nzoy, ein gläubiger Christ, habe am Bahnhof Morges gebetet. Dabei wurde er beobachtet. «Ein dunkel­häutiger Mann am Beten», sagt die Schwester. «Da dachten die wohl: Das muss ein Terrorist sein.»

Den Polizisten war bewusst, dass der Mann am Boden nicht weiss war. Das zeigt der Funk­verkehr mit der Zentrale.

Unmittelbar nachdem der letzte von drei Schüssen auf Nzoy fällt, greift ein Polizist zum Funkgerät und meldet: Schuss­abgabe. Er fordert eine Ambulanz an. Die Funk­sprüche sind kurz, nur das Nötigste wird kommuniziert: Gleis 4 zum Beispiel. Und: Er hat ein Messer. Er ist am Boden. Bei Bewusstsein.

Auf Videos sieht man, wie die Polizisten aufgeregt hin und her gehen. Sie sammeln ihre Handschuhe ein, versuchen sie einzustecken, ziehen sie an und wieder aus. Mit ihren Füssen stossen sie Nzoys Körper zurecht, knien auf ihn, fesseln ihn mit Hand­schellen, drehen ihn dann erst um und ziehen ein Messer unter seinem Körper hervor.

«Wäre mein Bruder blond und blauäugig gewesen, hätte man ihn nicht vier Minuten lang so menschen­unwürdig liegen lassen. Man hätte ihn, als er bewegungslos am Boden lag, nicht wie ein Tier mit den Füssen herum­geschoben, sondern man hätte den Anstand gehabt, ihn mit den Händen anzufassen und zu untersuchen», sagt Evelyn Wilhelm.

Dann kommt es zu einem weiteren Funk­kontakt mit der Notruf­zentrale. Die Zentrale meldet, dass die Ambulanz unterwegs zum Bahnhof Morges sei. Und fragt, ob der Polizist vor Ort weitere Informationen habe.

Keine Informationen, antwortet der Polizist. Stille. Und dann: «C’est un homme de couleur», sagt er, ein farbiger Mann. Er liege am Boden. Mehr nicht.

Die Ambulanz hätte über eine Vielzahl Dinge informiert werden können. Etwa darüber, ob Roger Nzoy noch lebt. Ob er blutet, sich bewegt oder atmet. Oder, wenn die Polizei Äusserlichkeiten hätte beschreiben wollen: über den hellorangen Pulli, die hellen Jeans, die weissen Sneakers.

All das erwähnt der Polizist aber nicht.

Die Hautfarbe habe keine Rolle gespielt, betonte der Polizei­kommandant öffentlich. Möglich, dass er das tatsächlich glaubt. Die Funk­sprüche selbst will Kommandant Clément Leu nicht kommentieren, da er sie nicht kenne. Einen Wider­spruch zu seinen Aussagen sieht er aber nicht.

Zur Republik sagt er: «Ich bin immer noch davon überzeugt, dass die Hautfarbe keine Rolle spielte.»

Ganz offensichtlich war die Hautfarbe den Polizisten vor Ort aber präsenter, als das der Kommandant für möglich hält: Denn sie war das Einzige, was dem Polizisten auf die Frage nach weiteren Informationen einfiel.

Spielte sie auch zuvor eine Rolle, als die vier Polizisten auf den Perron stürmten, die Hand an der Waffe? Und hatte das Einfluss darauf, wie rasch der Polizist die Waffe aus dem Holster zog und abdrückte?

Die Polizei bestreitet das. Entscheidend sei einzig die Bedrohungs­lage gewesen. Eine Antwort wird vielleicht die laufende Straf­untersuchung geben. Für alle Beteiligten gilt die Unschulds­vermutung.

Klar ist: Bis jetzt gibt es keinen Hinweis darauf, dass Nzoy vor Eintreffen der Polizei jemanden bedroht hätte. Gefährlich war er höchstens für sich selbst.

Die Situation schien schon geklärt

«Meinem Bruder ging es nicht gut», sagt Evelyn Wilhelm zur Republik. Er litt schon seit einigen Monaten an psychischen Problemen. In den Wochen vor seinem Tod war er in schlechter Verfassung. «Er hatte Ängste, fühlte sich verfolgt, hörte Stimmen. Er war in einer Lebens­krise.»

An jenem Montag Ende August sei Roger Nzoy kurz nach dem Mittag in einen Zug nach Genf gestiegen, sagt seine Schwester. Vermutlich wollte er dort jemanden besuchen, doch er kehrte schon bald zurück. Warum er ausgerechnet in Morges ausstieg, bleibt ein Rätsel. Seine Schwester glaubt, er sei wohl traurig gewesen, aufgewühlt, habe es im Zug nicht mehr ausgehalten.

Am Bahnhof Morges fiel Nzoy einem Bahnarbeiter auf, der ihn beobachtete, wie er betete. Das war um etwa 17.45 Uhr, nur eine Viertel­stunde vor den tödlichen Schüssen.

Der Bahnarbeiter beobachtete zunächst nur, machte sich aber Sorgen, dass Nzoy sich mit seinem Verhalten gefährden könnte. Er wählte den Notruf, bat um Hilfe, weil er fürchtete, Nzoy könnte sich vor einen Zug werfen.

Der Anruf wurde aufgezeichnet. Gemäss den Aufzeichnungen geschah Folgendes: Der Arbeiter geht zu Nzoy und spricht ihn an. Der aber will nichts von ihm wissen. Er solle weggehen, ruft Nzoy mehrmals. Doch der Bahn­arbeiter lässt sich nicht beirren. «Beruhige dich», sagt er immer wieder zu Nzoy.

Das Fleischmesser, das die Polizei wenige Minuten später bei Nzoy finden wird, ist zu diesem Zeitpunkt kein Thema. Nzoy wirkt zwar aufgebracht und will in Ruhe gelassen werden. Der Arbeiter scheint Nzoy allerdings überhaupt nicht als Gefahr zu sehen. Auf einem Video ist zu sehen, wie er nahe bei Nzoy steht und ihn festzuhalten versucht, als dieser über die Gleise gehen will.

Nzoy löst sich zunächst vom Bahnarbeiter. Dann scheint dieser doch auf ihn einwirken zu können. Die angespannte Stimmung legt sich. «Bleib ruhig», sagt der Bahn­arbeiter zu Nzoy. «Setz dich hin.»

Und tatsächlich: Nzoy fängt sich. Die brenzlige Situation scheint geklärt.

Doch dann stürmen die vier Beamten der Regional­polizei Morges auf den Perron. Roger Nzoy, der in den Wochen zuvor an paranoiden Schüben gelitten hatte, muss der Anblick von vier herbei­eilenden Polizisten in Aufruhr versetzt haben. In diesem Moment, so schildert es die Polizei, soll Nzoy ein Fleisch­messer gezückt haben. 26 Zentimeter lang.

«Mein Bruder glaubte, man verfolge ihn», sagt Evelyn Wilhelm. «Man wolle ihn tot sehen, hat er immer wieder gesagt. Das, was passiert ist, das hatte er sich schon so gedacht – und das ist auch eingetroffen.»

Nachdem die Polizei eingetroffen ist, geht alles ganz schnell, wie Videos von Zeugen zeigen.

Roger Nzoy steigt vom Gleis 5 auf den Perron und geht mit schnellen Schritten auf einen Polizisten zu. Dieser zückt seine Waffe, richtet sie auf Nzoy und geht in Schuss­position rückwärts. Er drückt zweimal ab. Nzoy fällt zu Boden. Der Polizist steckt die Waffe ein. Doch Nzoy steht wieder auf und geht auf die Polizisten los. Der Polizist greift noch einmal zur Glock 19. Er schiesst ein drittes Mal. Ein letztes Mal, und Roger Nzoy bleibt liegen.

«Er hätte Hilfe gebraucht», sagt Nzoys Schwester. «Nichts anderes.»

Es ist kurz vor 18 Uhr am 30. August 2021. Die Züge am Bahnhof Morges stehen still. Und wieder stirbt ein schwarzer Mann in den Händen der Polizei.