Ewiger Streit statt «ewigi Liebi»

Nzz am Sonntag

Am Freitag ist die Präsidentin der Rütlikommission zurück- getreten. Jetzt erzählt Judith Stamm noch einmal die wechselvolle Geschichte der «Rütliwiese» und zieht Bilanz

Kann ich das Rütli jetzt endlich ad acta legen? Als ehemalige Präsidentin der Rütlikommission sehr wohl. Als Bürgerin dieses Landes Schweiz: nie.

Worum ging es an den Bundesfeiern auf dem Rütli? Um das Grundrecht der freien Rede! Das begann 1999, als ich erstmals dabei war. Der Redner erwähnte, dass die Schweiz ihre Beziehung zur EU überdenken müsse. Schon ging das Gebrüll der rechtsextremen «Gäste» los. Und so ging es weiter bis zum Eklat 2005. Immer hatte ich den Medien gegenüber standhaft erklärt, dass die Feier auf dem Rütli öffentlich sei, dass diese rechtsextremen Gruppierungen nicht verboten seien, dass sie sich «mehr oder weniger» an die Hausordnung halten würden. Dann wurde Bundespräsident Samuel Schmid brutal niedergeschrien. Er hatte unter anderem das Wort «Integration» benützt und den Ausländern für ihren Beitrag zu unserem Wohlstand gedankt.

So konnte es nicht weitergehen. Im Einverständnis mit allen beteiligten Behörden und Gremien gelang es 2006 mit Zutrittskarten, Kontrollen und sichtbarer Polizeipräsenz, endlich wieder eine würdige, ungestörte Bundesfeier durchzuführen. Aber jetzt ging die Polemik erst recht los. Die Innerschweizer Bevölkerung zeigte sich schockiert durch die massive Polizeipräsenz und die hohen Sicherheitskosten. In den kantonalen Parlamenten und auf Bundesebene wurden Vorstösse eingereicht. Kritik und Vorschläge prasselten nur so auf die Rütlikommission nieder.

Von der «leeren Wiese» bis zum Bratwurst-, Schwing- und Jugendfest wäre in Zukunft alles recht gewesen. Nur keine Reden sollten auf dem Rütli mehr gehalten werden, schon gar nicht von Politikern. Und nicht über umstrittene Themen. Dabei wurde übersehen, dass eine leere Wiese geradezu eine Einladung an die Neo- Nazis gewesen wäre, unsere Demokratie zu verhöhnen, unter weltweiter Anteilnahme der Medien. Und dass hier das Grundrecht auf freie Rede in Gefahr geriet, ging am Anfang der hitzigen Debatte völlig unter. Das Rütli erschien manch wertkonservativem Eidgenossen als «heiliger Erinnerungsort», der nicht durch die Abhandlung aktueller politischer Themen entweiht werden durfte. Dem standen Äusserungen der Gleichgültigkeit und Ablehnung gegenüber. Der Widerstand gegen eine Feier erstarkte. Reihum verweigerten die Häfen am Vierwaldstättersee die Abfahrt von Gäste-Schiffen zum Rütli. Die Bundesfeier 07 musste abgesagt werden.

Und ging dann doch noch glanzvoll über die Bühne! Dank dem standhaften Wunsch der beiden höchsten Schweizerinnen, dort zu sprechen, dank der Mithilfe von Alliance F beim Ticket-Verteilen, dank der finanziellen Unterstützung durch zwei Wirtschaftskapitäne und nicht zuletzt dank dem arbeitsintensiven Einsatz der Mitarbeitenden im Hintergrund. Am Schluss der Feier explodierte auf der Wiese ein nicht näher definierter Sprengkörper, ohne Schaden anzurichten. Etwa einen Monat später wurden in Attinghausen bei Regierungsrat Josef Dittli, in Stans bei Nationalrat Edi Engelberger und in Luzern bei mir in der Morgenfrühe wieder Sprengsätze gezündet, keinen Personen-, aber Sachschaden bewirkend. Ein Gefühl der Unsicherheit trage ich seither mit mir herum. War dieser Anschlag der Anfang oder das Ende – wovon?

Was habe ich aus all dem gelernt? In den Medien wurde von «Gezerre», «Theater», «Posse» gesprochen. Aufmerksame Menschen merkten aber, dass am Beispiel der Rütlifeier leidenschaftlich über Werte gestritten wurde, die uns in unserem Lande wichtig sein sollten. Gibt es eine Freiheit der Rede, die sich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Landes zuwenden darf? Oder soll am 1. August auf dem Rütli nur «schweizerisch», «unpolitisch» und vor allem nicht «kontrovers» gesprochen werden? Dass Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey ihren Wunsch, auf dem Rütli zu sprechen, weiterhin unbeirrt und öffentlich bekräftigte, hatte manch männliches Gemüt erst recht in Wallung gebracht. Denn schliesslich waren Friedrich Schillers schwörende Eidgenossen im «Wilhelm Tell» lauter Männer gewesen.

Haben wir ein ganz tiefes Bedürfnis, wenigstens an einem Tag im Jahr an einem ausgewählten Ort Harmonie zu zelebrieren? Da wir uns in Wirklichkeit täglich über politische Fragen streiten. Ewiger Streit statt «ewigi Liebi» ist der Preis der direkten Demokratie und macht manchmal müde. Wir sind und bleiben in unserem Lande eine Ansammlung von Minderheiten. Von sprachlichen, kulturellen, weltanschaulichen, konfessionellen Minderheiten. Wir kennen uns schlecht und leben in dauernder politischer Auseinandersetzung. Wir finden uns aber auch immer wieder und einigen uns auf Lösungen. Dafür sorgen die Volksabstimmungen. Dafür sorgt das schweizerische Prinzip der Konsenssuche und Konsensfindung. Deshalb haben wir ja so stabile Verhältnisse! Nicht verzichtbare Voraussetzung dafür ist der Respekt vor der Meinung des anderen.

Vereinnahmen, niederschreien, verächtlich machen, Schmähschriften, Drohungen, Anschläge haben in einer direkten Demokratie nichts zu suchen. Sie sind wie zersetzendes Gift, dessen Wirkung häufig erst spät erkannt wird. Das gilt nicht nur für die Feier auf der Rütliwiese. Das gilt für alle Manifestationen unseres politischen Lebens, von Plakatwänden bis zu Medienkonferenzen. Mein Fazit heisst daher: Verabschieden wir uns von «verbindenden Mythen», die uns doch nicht verbinden. Verzichten wir auf «erhabene Gefühle», die uns doch nicht erheben. Üben wir stattdessen tagtäglich die Grundregel der Demokratie: Respekt, Respekt, Respekt vor der Meinung Andersdenkender! Und fordern wir diesen Respekt auch immer wieder laut und deutlich ein.

Judith Stamm

Judith Stamm, 73, war bis letzten Freitag Präsidentin der Rütlikommission und bis Juni 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Die Juristin und langjährige Jugendanwältin des Kantons Luzern sass von 1983 bis 1999 als CVP-Vertreterin im Nationalrat.