Einladung für Eiferer und Extremisten

Tages-Anzeiger vom 17.10.2012

 

Das Antirassismus-Gesetz produziert viel juristischen Leerlauf. Rechtsextreme Provokateure machen dank Strafanzeigen von linken Eiferern Gerichtssäle zu Tribünen für ihre Sache.

Es war keine fromme Predigt, zu der Nationalrat Alfred Heer (SVP, ZH) im «Sonntalk» von Tele Züri ansetzte. In der Sendung vom 16. September ging es um Asylprobleme. Heer erklärte in der Gesprächsrunde: «Gerade die jungen Nordafrikaner aus Tunesien kommen schon als Asylbewerber mit der Absicht, kriminell zu werden. Denen ist es egal, ob sie Nothilfe haben oder So­zialhilfe.» Als eine Gesprächsteilnehmerin dies als «infame Unterstellung» kritisierte, relativierte Heer, er meine ja nicht alle Tunesier.

 

Gewiss, das «Wort zum Sonntag» klingt anders – ein gottloses Verbrechen ist der Satz, so grob verallgemeinernd ihn Heer formuliert haben mag, aber auch nicht. Anfang dieses Jahres war der Basler Migrationsexperte Thomas Kessler, einst Grüner Zürcher Kantonsrat, zum Schluss gekommen, die meisten asylsuchenden Tunesier seien «Abenteuermigranten».

 

Strafanzeige gegen Politiker


Trotzdem zeigten sich zwei Tunesier überzeugt, Heer habe sich mit seiner Aussage etwas zuschulden kommen lassen. Sie reichten gegen den Volksvertreter Strafanzeige wegen Verstosses gegen den Rassismus-Artikel im Strafgesetzbuch ein.

Gemäss diesem Artikel wird mit Gefängnis oder Busse bestraft, wer «öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion zu Hass oder Diskriminierung aufruft». Bestraft wird auch, wer «öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet sind» oder wer «Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht».

Jetzt liegt die Akte Heer bei der Zürcher Staatsanwaltschaft. Und die zuständige Kommission des Nationalrats muss am 13. November über die Aufhebung von Heers parlamentarischer Immunität befinden. Die behördliche Maschinerie, einmal in Gang gesetzt, läuft unerbittlich und gnadenlos.

 

Holocaust-Leugner im Visier


Eigentlich hatte der Bundesrat viel schwerwiegendere Fälle im Sinn, als er 1992 dem Parlament den Beitritt zum «Internationalen UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung» und ein entsprechendes Gesetz vorschlug. «Rassistische Propaganda» sowie «rassistische Angriffe auf die Menschenwürde» seien unter Strafe zu stellen, argumentierte er.

Im Abstimmungsbüchlein warb der Bundesrat 1994 für den Paragrafen, dem National- und Ständerat zuvor zugestimmt hatten, mit folgendem Argument: «Mit der neuen Strafbestimmung wird auch die Auschwitz-Lüge bekämpft. Das Leugnen der Verbrechen, die während des Dritten Reiches begangen worden sind, ist zu einem Vehikel für den Rechtsextremismus geworden.» Weil viele europäische Staaten das Leugnen des Holocaust bereits mit Strafe verfolgten, würden «solche Behauptungen vielfach von der Schweiz aus verbreitet», und «das dürfen wir nicht dulden».

 

Gummiges Gesetz


Der Bundesrat versprach ferner, das Gesetz behindere «die für unsere Demokratie so wichtigen öffentlichen Auseinandersetzungen keineswegs». Nach wie vor sei «Kritik beispielsweise an der Einwanderungs- und Asylpolitik möglich». Ewiggestrige und Unverbesserliche, mithin grosse Fische hatte die Politik also in den Neunzigerjahren vor allem im Visier, als sie die Antirassismus-Bestimmungen formulierte. Heute zeigt sich: Das Gesetz bringt Anwälten viel Einkommen und Gerichten viel Arbeit – und unter dem Strich grossen Leerlauf.

Von 1995 bis 2010 (aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor) wurden laut einer Statistik der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus in den Kantonen 533 Anzeigen wegen Verstosses gegen den Strafgesetzbuchartikel eingereicht. Doch in knapp der Hälfte dieser Fälle traten die Untersuchungsbehörden gar nicht erst auf die Anzeigen ein. Oder sie beendeten das Verfahren nach summarischer Prüfung des Sachverhalts. Viele Vorwürfe hatten sich also als unhaltbar erwiesen.

Das Gesetz ist gummig. Das Bundesamt für Justiz kam 2007 in einer kritischen Würdigung zum Schluss, wegen «zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffen» sei es auslegebedürftig und bereite «Richtern Schwierigkeiten». Es sei «nicht für jedermann klar, was strafbar ist und was nicht».

 

Tribüne für Provokateure


Dafür ist das Antirassismus-Gesetz geradezu eine Einladung für rechtsextreme Provokateure, dank Strafanzeigen von linken Eiferern Gerichtssäle zu Tribünen für ihre Sache zu machen und sich Gehör zu verschaffen, das sie sonst nie erhalten hätten. Im Jahr 2000 wurde der Waadtländer Holocaust-Leugner Gaston-Armand Amaudruz wegen Rassendiskriminierung verurteilt. 2007 wurde der türkische Politiker Dogu Perinçek, der hierzulande den Genozid der Türken an den Armeniern geleugnet hatte, bestraft. Die Medien rapportierten laut. Doch manchmal wäre Schweigen Gold.