«Ein richtig böser Mensch»

Der Bund. Rechter Terror in Deutschland Der Neonazi Stephan E. hat vor einem Jahr den CDU-Politiker Walter Lübcke erschossen. Nun beginnt der Prozess gegen den 46-jährigen Täter und einen Komplizen.

Wie oft er schon hierher kam! Er schaute von der Pferdekoppel am Rande des Dorfes hinüber zu dem weissen Haus mit Terrasse und Giebeldach. Hatte die Waffe dabei. Dachte voller Hass an den Mann da drüben. Spähte nach ihm. Ging dann wieder.

Diesmal nicht. Eigentlich will Stephan E. gerade wieder umkehren, da leuchtet auf der Terrasse Walter Lübckes iPad auf. Der Regierungspräsident raucht nach einem Abend mit Freunden allein eine Zigarette und sucht nach Angeboten für ein paar Tage Ferien im Mittelgebirge. Diesmal tut der Späher, was er sich schon lange vorgenommen hat.

Stephan E. schleicht in den Garten, den Revolver in der Hand, dessen Hahn schon gespannt. Als er hinter Lübcke steht und dieser sich umdrehen will, schiesst er ihm aus ein, zwei Metern eine Kugel in den Kopf. Lübcke ist sofort tot. Vom Dorf weht die Musik der «Weizen-Kirmes» hinüber. Den Schuss hat niemand gehört. Es ist der 1. Juni 2019, eine halbe Stunde vor Mitternacht.

Es ist der Tag, an dem erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein Neonazi gezielt einen Politiker tötet. Lübcke lebte in Istha, 25 Kilometer von Kassel entfernt. Zehn Jahre lang hatte der 65-jährige Christdemokrat, Vater von zwei erwachsenen Kindern, da bereits den nördlichen der drei hessischen Bezirke regiert. Seine Ermordung, die scheinbar aus heiterem Himmel kam, war eine Zäsur: Erstmals nahm Deutschland den Terror von rechts, den es seit Jahrzehnten gegeben hatte, als akute Bedrohung wahr. Der Schock wirkt nach bis heute.

322 Seiten umfasst die Anklageschrift des Generalbundesanwalts gegen den heute 46-jährigen mutmasslichen Mörder. Stundenlang erzählte Stephan E. den Ermittlern, was ihn zum Mord getrieben hatte. Die Geschichte begann 2015, als Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Lübcke war für deren Unterbringung in Nordhessen zuständig. Im Oktober erklärte er seine Pläne in Lohfelden bei Kassel in einer Bürgerversammlung. Stephan E. sass im Publikum.

Gegen den «Volksverräter»

Als Lübcke die Aufnahme von Flüchtlingen als Akt der Mitmenschlichkeit rechtfertigte, liess er sich, von Anhängern der örtlichen Pegida beschimpft, zu einem Satz hinreissen, der die Rassisten erst recht provozierte: Wer diese humanitären Werte nicht teile, könne Deutschland jederzeit verlassen. «Verschwinde!», schrie Stephan E. in den Saal. Sein Freund Markus H. nahm die Szene mit dem Handy auf und veröffentlichte sie in den sozialen Medien. Am Abend gingen bei Lübcke bereits die ersten Morddrohungen ein.

Für Stephan E. verkörperte der «Volksverräter» Lübcke von da an nicht nur die verhasste Flüchtlingspolitik von Angela Merkel, sondern auch die Bedrohung durch radikale Muslime. Sein Hass wuchs schnell. Die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht von Köln, das Lastwagen-Attentat von Nizza, die Enthauptung zweier skandinavischer Touristinnen in Marokko steigerten ihn zur Obsession. Als Stephan E. Lübcke erschoss, so sagte er den Ermittlern, hatte er die Schreie der ermordeten Frauen im Ohr. Er nahm Rache im Namen des deutschen Volkes. Gegen dessen Feinde. So sah er das.

Mit auf der Anklagebank am Oberlandesgericht in Frankfurt sitzt ab heute Markus H. Die beiden Neonazis sind seit 15 Jahren befreundet. Die Ankläger werfen dem 44-Jährigen Beihilfe zum Mord vor. Er sei zwar bei der Tat nicht anwesend und in den konkreten Plan nicht eingeweiht gewesen, habe Stephan E. aber angetrieben. Er habe ihn scharfgemacht.

Markus H.’s Ex-Freundin meinte: H. sei der «Denker» gewesen, E. der «Macher». Der «Waffenfanatiker» H. half E., ein Arsenal aufzubauen, und übte mit ihm das Schiessen. Als die Ermittler eine Garage öffneten, die H. mietete, fanden sie Hakenkreuze, Büsten von Hitler und Göring, eine eigentliche Rumpelkammer des «Dritten Reichs».

Dem Mörder Stephan E. kamen die Ermittler eher zufällig auf die Spur. Auf dem Hemd des Toten fanden sie zwei Hautschuppen. Deren DNA stimmte mit derjenigen von E. überein, die noch in der Datenbank figurierte, obwohl sie längst hätte gelöscht sein sollen. Als die Polizei E. verhaftete, gab er in einem vierstündigen Gespräch alles zu. Er wies die Ermittler auf sein Erddepot hin, wo er die Tatwaffe und ein halbes Dutzend weiterer Schusswaffen versteckt hatte. Er sprach auch über seinen Freund Markus H.

Auffällig und höchst gefährlich

Stephan E.’s Spuren fanden sich auch an der Tatwaffe. Am Lenkrad des VW Caddy, mit dem er von Kassel nach Istha gefahren war, fand man Schmauchspuren. Als E. einen neuen Anwalt nahm, widerrief er sein Geständnis plötzlich und behauptete, Markus H. sei der Täter gewesen. Sie hätten Lübcke nur eine «Abreibung» verpassen wollen, da habe sich «versehentlich» ein Schuss gelöst, H. habe die Waffe gehalten. Die Ankläger halten diese Version für erfunden. Spuren von H. haben sie jedenfalls weder am Tatort noch an der Tatwaffe gefunden.

Stephan E. war als rechtsextremer Terrorist extrem frühreif. Seine Entwicklung verlief jedoch nicht geradlinig, sondern in Etappen, zwischen denen es Pausen gab. Als 15-Jähriger versuchte er, ein Haus anzuzünden, in dem vor allem Türken wohnten. Das Benzin im Keller brannte schon, verlöschte dann aber wieder. Mit 19 rammte er einem türkischen Imam auf einer Bahnhofstoilette in Wiesbaden ein Messer in den Rücken, weil er sich von ihm belästigt fühlte. Mit 20 platzierte er eine Rohrbombe in einem mit Benzin gefüllten Auto vor einem Flüchtlingsheim. Das Auto ging zwar in Flammen auf, wurde aber von Heimbewohnern gelöscht, bevor es in die Luft fliegen konnte.

1995 wurde Stephan E. zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt. Die Gutachter hielten den jungen Mann, der als Jugendlicher aus Angst vor seinem betrunkenen Vater mit einem Messer unter dem Kopfkissen geschlafen und sich das Wort «Hass» in die Hand geritzt hatte, für psychisch auffällig und höchst gefährlich. E. selbst sagte, dass er sich verwandle, wenn er Ausländer sehe. Er werde dann «ein richtig böser Mensch».

Aus dem Gefängnis kam er nicht geläutert, sondern in seinem Hass bestärkt. Die Kasseler Neonaziszene wurde seine Heimat. Zwischen 2001 und 2007 fiel er den Behörden immer wieder als Gewalttäter auf. Er spähte eine Synagoge aus, sammelte Anleitungen zum Bombenbau und zum Untergrundkampf, legte Dossiers und Listen an, auf denen Lokalpolitiker und Beamte als Feinde markiert wurden. 2003 verfehlte ein Schuss durch ein Küchenfenster einen Lehrer, der sich gegen Rassismus engagierte, haarscharf. Die Ermittler halten es heute für möglich, dass Stephan E. der Schütze war.

2009, als er auf einer Demo einen Stein auf einen Polizisten warf, fiel er den Behörden zum vorerst letzten Mal auf. Danach schien Stephan E., den der hessische Verfassungsschutz bis dahin für «brandgefährlich» gehalten, aber doch nie aus dem Verkehr gezogen hatte, plötzlich «abzukühlen»: Er heiratete, zog in ein Häuschen, bekam Kinder, arbeitete. Jahr für Jahr verschwand er mehr vom Radar der Behörden, bis 2015 sein Dossier offiziell geschlossen wurde. Niemand bemerkte, dass er sich ausgerechnet damals von neuem radikalisierte.

Politische Heimat in der AfD

2013 traf Stephan E. bei der Arbeit zufällig auf seinen alten Kumpel Markus H. Die beiden bestärkten sich im Gefühl, dass sie sich gegen Muslime und Ausländer endlich zur Wehr setzen müssten. «Wir Deutschen brauchen Waffen», war H.’s Motto. Als die vielen Flüchtlinge aus Syrien kamen, wuchs ihr Hass.

Nach der Silvesternacht von Köln stach E. nicht weit von seiner Wohnung einen irakischen Flüchtling von hinten nieder und tötete ihn fast. Auch für dieses Verbrechen steht er jetzt vor Gericht: An einem von E.’s Messern stellten Forensiker vier Jahre nach der Tat DNA-Spuren des Opfers fest.

In der Alternative für Deutschland (AfD) fand Stephan E. eine politische Heimat. Er nahm an Treffen der Partei teil, klebte Plakate, johlte Björn Höcke in Erfurt zu, marschierte 2018 mit AfD und Neonazis in Chemnitz auf, spendete Geld für die «Identitäre Bewegung».

Spätestens ab 2016, so glauben die Ermittler, fasste er zusammen mit Markus H. ein «Fanal» an Lübcke ins Auge. Auf Youtube kündigte er an: «Schluss mit reden.» Entweder die Regierung danke bald ab, «oder es wird Tote geben». Weder die Polizei noch der Verfassungsschutz hinderten Stephan E. daran, seine Pläne in die Tat umzusetzen.

Politische Aufarbeitung beginnt

Im hessischen Landtag soll noch in diesem Monat ein Untersuchungsausschuss damit beginnen, mögliche Versäumnisse im Mordfall Walter Lübcke aufzuklären. Der Ausschuss soll nicht nur klären, warum der hessische Verfassungsschutz den mutmasslichen Täter Stephan E. nach 2009 aus den Augen verloren hat, sondern auch, warum dessen Komplize Markus H. legal Waffen besitzen durfte. Man will überdies wissen, ob die beiden Angeklagten in den 2000er-Jahren zu den Unterstützern des «Nationalsozialistischen Untergrunds» (NSU) gehörten. 2006 wurde in Kassel der Kleinunternehmer Halit Yozgat erschossen – es war der neunte und vorletzte Mord des NSU. Ein Verfassungsschützer, der rechtsextremistische V-Leute führte, war während des Mordes am Tatort, wollte von der Tat aber nichts mitbekommen haben. (de.)