Dominik, invalid getreten

NeueZürcherZeitung

Dominik ist 17 Jahre alt und behindert, weil sieben Rechtsextreme ihn und einen Freund zusammengeschlagen haben. Sein Hirn ist für immer geschädigt. DieTäter warten auf ihr Urteil, das am 15. September ergehen soll.

Plötzlich, mitten im Gespräch, fragt Rosmarie B.: «Wieso legen die Leute keinen Helm an?» Sie hat so viele hirnverletzte Menschen gesehen in all den Reha-Kliniken und Spitälern, in denen Dominik lag. «Das ganze Leben ist doch im Kopf», sagt Frau B. und streicht ihrem 17-jährigen Sohn eine Dreadlock aus dem Gesicht. Dominik sitzt neben ihr und versucht mit dem Röhrchen, eine kalte Ovo zu trinken.

Natürlich weiss Frau B., dass nur einen Helm anzieht, wer etwas Riskantes tut. Und selbstverständlich trugen ihr damals 15-jähriger Sohn und sein zwei Jahre älterer Freund Stefan keinen Helm, als sie am 26. April 2003 mit dem Zug von Wil nach Frauenfeld fuhren, um ein Konzert zu besuchen. Sie konnten ja nicht wissen, dass dort sieben Rechtsextreme seit zwei Stunden herumschlichen, mit dem einzigen Ziel, Opfer zu finden, um sie zusammenzuschlagen. Dann sehen die Rechtsextremen Dominik und Stefan, die kein Billett für das ausverkaufte Konzert ergattern konnten und auf dem Rückweg zum Bahnhof sind. Dominik trägt einen «Dickies»-Pullover und eine farbige Jamaica-Mütze, Stefan einen Kapuzen- Pulli, auf dem «Slipknot» steht. Die Täter hatten Opfer gefunden.

Essen in Zeitlupe

Die sieben jungen Schweizer im Alter zwischen 18 und 23 Jahren trugen teils Handschuhe und Masken; sie gingen, wie sie sagten, «in V-Kampfformation» auf die Opfer zu, stellten eine Frage und schlugen zu – ohne auf Antwort zu warten. Eine leere Cherry-Frizz-Flasche von mehr als einem halben Kilogramm donnerte auf Dominiks Kopf. Die Männer schlugen und traten noch gegen die Köpfe der Opfer, als diese längst am Boden lagen. Stefan verlor das Bewusstsein. Dominik versuchte, auf allen vieren davonzukriechen, worauf die Angreifer seinen Kopf zu Boden drückten und weitermachten.

Auf dem Tisch der Familie B. steht heute meist eine Rolle Haushaltspapier. Weil Dominik oft der Speichel aus dem Mund trieft. Sein Hirn kann die Muskeln im Mund nicht mehr richtig steuern. Es kann auch den Sprechapparat nicht mehr richtig steuern und das Gleichgewicht. Den Salat und den Toast, die ihm die Mutter zum Znacht gemacht hat, isst Dominik wie in Zeitlupe, er kämpft mit seiner Motorik.

Für Frau B. ist es ein Erfolg, zu sehen, dass ihr Sohn überhaupt wieder kauen und schlucken kann. Damals, als sie ihn auf der Intensivstation des Kinderspitals Zürich erstmals besuchte, sagten ihr die Ärzte, er werde wahrscheinlich sterben. «Er hat nicht einmal mehr selbst geatmet, er lag einfach da, wie ein Stück Fleisch», sagt Frau B. Wegen der Schläge gegen Dominiks Kopf war ein Teil der Hirnmasse abgestorben, Hirnwasser konnte nicht abfliessen, die Ärzte mussten das rechte Stirnhirn chirurgisch entfernen.

Als Dominik wieder zu atmen begann, «wussten wir, dass er leben will», sagt die Mutter. Sie ist geschieden und alleinerziehend, seit Dominik zweijährig ist. Dominiks Bruder und Schwester sind 28 und 30 Jahre alt und wohnen schon lange nicht mehr zu Hause.

Am schlimmsten ist, dass auch Dominiks Kurzzeitgedächtnis zerstört ist und er sehr schnell ermüdet. Lesen ist nahezu unmöglich, drei Zahlen zusammenzuzählen, ist Schwerstarbeit, Filmhandlungen vermag er nicht zu folgen. Nur über Slapsticks kann Dominik lachen. Auch die Erinnerung an den Überfall ist weg, sein früheres Leben aber hat Dominik im Gedächtnis behalten. Reggae mag er noch immer, «Love and Peace» bleibt sein Motto, er spreizt die Finger zur Begrüssung, und im Zimmer hängen Bilder von Bob Marley. Das Sprechen fällt ihm schwer, die Artikulation ist undeutlich. Am besten versteht ihn die Mutter.

Aus der Heilpädagogischen Schule in Flawil bringt er abends ein Büchlein heim, in dem steht, was er tagsüber getan hat, weil er sich nicht erinnern kann. Die Mutter liest es dann mit ihm. Am 25. 8. hat Dominik geschrieben: «Heute habe ich in der Ergotherapie» – dann bricht seine Schrift ab, weil er nach sechs Wörtern zu müde ist. Die Lehrerin hat ergänzt: «die linke Seite bearbeitet. Wir haben am Spiegel mit Rasierschaum geübt.» Die Mutter freut sich über die wenigen Worte, weil Dominik ganz am Anfang bloss unkontrolliert kritzeln konnte. Auch die linke, gelähmte Körperseite funktioniert wieder halbwegs dank vielen Therapiestunden. Um das Schlucken zu trainieren, wurden Dominik etwa in Gaze eingepackte Aprikosen- und Apfelstücke in den Mund gesteckt, auf die er beissen sollte. Das erste Wort, das Dominik nach dem langwierigen Kau-Training gesagt hatte, war «McDonald’s». Die Mutter muss lächeln.

Dominik wird wohl immer zu hundert Prozent arbeitsunfähig bleiben, seine Zukunft ist ungewiss. Und die Sorge darum hat auch das Leben seiner Mutter umgekrempelt. Kurz vor dem Überfall war die Familie von Wil nach Schlieren gezogen; Frau B., eine gelernte Köchin, wollte dort ihren Traum vom eigenen Café mit Party-Service verwirklichen. Dominik schnupperte als Pfleger im Limmattalspital, er hätte eine Lehrstelle erhalten. Der Konzertbesuch in Frauenfeld war eine Belohnung dafür. Dann kamen die Schläge. Frau B. verlor ihr Einkommen, weil sie Tag und Nacht bei ihrem Sohn wachte. Die Familie zog nach Wil zurück, weil sich Dominik ohne Kurzzeitgedächtnis an einem neuen Ort nicht einleben konnte und jedes Mal «Hei, hei» rief, wenn sie Verwandte in Wil besuchten. Heute rufen ab und zu seine Kollegen von früher an, nehmen ihn mit zum Glace-Essen oder ins Restaurant, aber sie müssen aufpassen auf ihn wie auf ein Kleinkind. Nach ein, zwei Stunden ist er todmüde, seine Mutter kommt ihn holen, während seine Freunde weiterziehen, so wie er es früher auch getan hat, aber nicht mehr kann. «Das tut ihm dann schon fürchterlich weh», sagt seine Mutter.

Frau B. traf in den Kliniken Pfarrer und Psychologen, die helfen wollten. Aber am meisten half ihr, wenn sie nach den Spitalbesuchen jeweils am Waldrand anhielt, losheulte und herausschrie. Geholfen haben ihr auch die Sozialdienste und die Anwältin der Opferhilfe. Ausserdem die vielen Briefe der Leute, der Hotelier aus Davos, der sie und ihren Sohn zu Ferien einlud, der türkische Kebab-Händler aus Wil, der ihrem Sohn seither stets Kebab offeriert und besorgt anruft, wenn dieser mal zwei Wochen nicht auftaucht.

Keine Entschuldigung

Dominik wollte Anfang Woche unbedingt zum Prozess gegen sechs seiner Peiniger (einer hatte sich in der Zelle erhängt). Auch Rosmarie B. wollte die sehen, die einfach so, an einem Samstagabend, das Leben ihres Sohnes zertreten haben. «Vielleicht würde ich etwas verstehen, vielleicht würden sie mir leid tun», dachte sie. Aber da war nichts ausser hölzernen Worten des Bedauerns. In den zweieinhalb Jahren kam auch nie ein Brief, weder zu ihr noch zur Anwältin, kein Versuch der Entschuldigung. Nur die Mutter eines Angeklagten rief ein paar Monate vor dem Prozess bei Frau B. an und sagte, sie habe Dominik neulich im Fernsehen gesehen und es tue ihr leid. Aber jetzt komme ihr Sohn ins Gefängnis, und sie könne dies kaum ertragen. Ob Frau B. ein gutes Wort einlegen könne?

Rosmarie B., eine resolute Frau von 55 Jahren, versuchte ruhig zu bleiben: Dominik stecke lebenslänglich in einem Gefängnis, sagte sie. «Wollen Sie mit mir tauschen?»