Der grosse Schweizer Landfriedensbruch

Die Wochenzeitung

Die Besetzung des Bundesplatzes war nur das letzte Beispiel: Wer hierzulande demonstriert, wird immer stärker kriminalisiert. RechtsexpertInnen kritisieren die Härte von Polizei und Justiz. Bei manchen AktivistInnen zeigt sie psychische Folgen.

Von Anna Jikhareva, Merièm Strupler und Natalia Widla

Gut 48 Stunden dauerte die Besetzung des Bundesplatzes. So schnell die Klimajugendlichen in der Nacht auf Montag ihr kleines Zeltdorf aufgestellt hatten, so leer war der Platz bereits am Mittwochmorgen wieder. Wirft man einen Blick auf die Reaktionen, ist ihnen allerdings ein veritabler Coup gelungen: Mit Karacho katapultierte sich da eine Bewegung zurück ins öffentliche Bewusstsein, deren dringliches Anliegen durch die Pandemie in den Hintergrund getreten war.

Das scheint einige sehr nervös gemacht zu haben: Die Bürgerlichen wollten sich gar nicht mehr einkriegen vor lauter Empörung darüber, dass sich da jemand traute, den Protest gegen die Klimakatastrophe dorthin zu tragen, wo er sichtbar ist: an den Ort, wo die politischen Entscheide gefällt werden.

Die Medien offenbarten, wie wenig sie von sozialen Bewegungen verstehen, als sie den BesetzerInnen paternalistisch nahelegten, doch lieber eine Initiative zu lancieren. Die Berner Polizei wiederum hielt sich erst lange zurück und räumte den Platz später im Dunkel der Nacht. Worüber die Medien dann nicht mehr so breit berichteten: Mindestens 85 KlimaaktivistInnen haben nun eine Anzeige am Hals. Zugleich gingen die Behörden mit aller Härte gegen eine parallel stattfindende Flüchtlingsdemo vor.

Lukas Frei* war am Dienstagabend nach Bern gekommen, um sich gegen die anstehende Räumung zu wehren. Zusammen mit anderen setzte er sich auf den Boden des Bundesplatzes, die jungen Leute hielten einander fest, bis die Polizei eingriff. «Anstatt mich an den Armen zu packen, drückte mir einer der Beamten seine Hand auf die Kehle und schnürte mir die Luft ab», berichtet der 31-Jährige. «Als ich dann zu schreien anfing, wurden die Polizisten wortlos vom Einsatzleiter abgezogen und eine andere Gruppe unserem Teil der Besetzung zugeteilt.»

Frei sagt, er sei als Einziger aus seiner Gruppe in Handschellen abgeführt worden, habe mehrere Stunden zusammen mit jenen in einer Zelle verbracht, die sich aus Protest irgendwo festgekettet hatten. «Alles nur, weil ich auf die Gewaltanwendung aufmerksam gemacht habe», glaubt er.

Aus Sicht der Berner Kantonspolizei ist die Räumung «weitgehend ruhig» verlaufen, wie sie auf Anfrage schreibt. Ein Mann sei zwar «im Bereich des Gesichts und des Kopfes» angefasst worden, es habe sich aber «nicht um einen Würgegriff» gehandelt, so der Sprecher. Er bestätigt, dass der Mann in Handschellen abgeführt und aufs Revier gebracht wurde, den Austausch von Einsatzkräften hingegen dementiert er.

Anzeigen gegen AktivistInnen, eine repressiv auftretende Polizei, harte Gerichtsurteile und Gesetzesverschärfungen: Neben der Bundesplatzbesetzung ist vergangene Woche noch einiges mehr passiert, das auf einen zunehmend repressiven Umgang mit Protest schliessen lässt. Bilden die Ereignisse eine längere Entwicklung ab? Und was macht die Kriminalisierung mit den Betroffenen? Über diese Fragen hat die WOZ mit Rechtsprofessorinnen, Anwälten und Aktivistinnen gesprochen. Das Bild, das sie zeichnen, ist beunruhigend.

Acht Monate unbedingt

Für Schlagzeilen sorgte am Montag vor einer Woche nicht nur die Platzbesetzung: In Basel wurde eine Aktivistin zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, ohne Bewährung. Zum Verhängnis wurde ihr, dass sie im November 2018 an einer unbewilligten Demonstration teilgenommen haben soll. Unter dem Motto «Basel Nazifrei» stellten sich damals rund 2000 Personen einer rechtsextremen Kundgebung in den Weg. Verurteilt wurde die Frau nun wegen «Landfriedensbruch» sowie der «passiven Teilnahme an mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Beamte». Dabei hatte die Staatsanwaltschaft ihr selbst kein gewalttätiges Handeln vorgeworfen; bestraft wurde sie dafür, dass sie sich nicht rechtzeitig von der Kundgebung entfernt haben soll.

Das ungewöhnlich harte Urteil gegen eine junge Frau ohne Vorstrafen markiert den bisherigen Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung im Kanton Basel-Stadt: Linke AktivistInnen werden für ihren Protest bestraft.

Bei ihrem Schlusswort vor Gericht fasst die Aktivistin die Gemengelage so zusammen: «In den letzten Jahren hat die Repression gegen die radikale Linke klar zugenommen, diese Entwicklung ist aber nicht nur eine lokale.» Repression solle einschüchtern, vereinzeln, spalten. «Aber die Strategie wird langfristig nicht aufgehen. Wir werden alles dransetzen, die Repression als einen Moment aufzunehmen, der uns stärkt», sagt sie. Gerade werden rund um «Basel Nazifrei» Urteile fast im Akkord gefällt. Insgesamt laufen derzeit sechzig Verfahren gegen mutmassliche TeilnehmerInnen des antifaschistischen Protests.

Die bereits ergangenen Urteile lassen dabei kaum eine Logik erkennen: So wurde etwa ein Angeklagter zu sieben Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er eine Bierbüchse in Richtung Polizei geworfen hatte. Ein anderer Beschuldigter erhielt ebenfalls sieben Monate, weil er ein Transparent hielt. Und ein dritter wurde zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt, weil er das Geschehen während der Demonstration filmte.

Von Zeugen zu Tätern

Am Donnerstag, einen Tag nach der Räumung des Bundesplatzes, versammeln sich vor dem Basler Strafgericht Angeklagte, FreundInnen und Angehörige. Kaffee, Tee und Croissants werden gereicht. «Wir sind solidarisch mit allen von Repression Betroffenen», sagt eine junge Frau in ihrer Ansprache. Es ist bereits das zweite Mal innert weniger Tage, dass sich eine solidarische Gruppe auf dem Platz vor dem Gericht trifft.

An jenem Morgen verhandelt die Justiz ebenfalls eine Demonstration. Im März 2016 wird in Basel die besetzte Matthäuskirche geräumt, in der Geflüchtete Schutz vor einer drohenden Ausschaffung gesucht hatten. Dass die Polizei in Kirchenräume eindringt, um Asylsuchende festzunehmen, war in der Schweiz damals ein Novum.

Aus Protest versammeln sich noch am gleichen Abend mehrere Hundert Aktivistinnen und Quartierbewohner. Die Polizei blockiert den unbewilligten Umzug, schiesst mit Tränengas und Gummischrot auf die Protestierenden – teils ohne Vorwarnung und ohne den gesetzlichen Mindestabstand einzuhalten, wie auf Videos zu sehen ist, die im Gerichtssaal auf Antrag der Verteidigung abgespielt werden.

Die fünf Angeklagten – heute zwischen Mitte zwanzig und Anfang fünfzig – folgten später einem Aufruf der Juso, reichten eine Beschwerde gegen den Polizeieinsatz ein und wurden von der Staatsanwaltschaft als Auskunftspersonen vorgeladen. Diese nutzte die Befragung allerdings dazu, die Anwesenheit der fünf bei der Kundgebung festzustellen – und verurteilte sie daraufhin per Strafbefehl wegen Landfriedensbruch. Weil die fünf gegen das Urteil Einsprache erhoben haben, stehen sie nun vor Gericht.

«Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft war nicht vertrauenerweckend», konstatiert der Gerichtspräsident bei der Urteilsverkündung einen Tag später. Es widerspreche dem Fairnessgebot: «Die Angeklagten hätten bei der Befragung auf ihre Rechte als Tatverdächtige aufmerksam gemacht werden müssen», was nicht geschehen sei. Der Prozess endet für einmal mit einem Freispruch.

Silvio Bürgi, der einen der Beschuldigten juristisch vertritt, geht in seiner Kritik noch weiter: In seinem Plädoyer spricht er von einem «falschen Spiel» der Staatsanwaltschaft. «In Basel vergeht gefühlt keine Woche mehr, in der sich nicht Personen vor Gericht verantworten müssen, weil ihnen im Zusammenhang mit Kundgebungen auf öffentlichem Grund Straftaten vorgeworfen werden», so Bürgi.

Die Grundkonstellation sei dabei immer die gleiche: «Der Vorwurf lautet nicht, dass man selber etwas gemacht hat. Man soll bereits deshalb kriminalisiert werden, weil man sich in einem Demonstrationszug befunden hat.» Das Verfahren gegen die fünf Protestierenden sei «Ausdruck einer überbordenden Kriminalisierung in Zusammenhang mit öffentlichen Kundgebungen und der Ausübung von Grundrechten», sagt der Anwalt später auch im Gespräch. «Für eine funktionierende Demokratie ist das brandgefährlich.»

Der Fall sei zudem ein gutes Beispiel dafür, dass die Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei «ein systematisches Problem» darstelle, schreibt der Anwalt und SP-Grossrat Christian von Wartburg anschliessend in einer Mitteilung der Demokratischen JuristInnen. Er fordert deshalb eine unabhängige Beschwerdestelle, die polizeiliches Fehlverhalten untersucht. Im Kanton Basel-Stadt ist die Kriminalpolizei in die Staatsanwaltschaft integriert.

Die Kriminalisierung von Protestierenden, von der Verteidiger Bürgi spricht, zeigt sich derweil auch in den «Basel Nazifrei»-Verfahren – und im Fall der «Basel 18». Das Strafgericht hatte im Januar 2019 in einem Massenprozess fünfzehn von achtzehn Beschuldigten zu Kollektivstrafen verurteilt, nachdem es bei einer Demonstration zu Sachschäden und Flaschenwürfen gekommen war. Alle Personen wurden für die Vorkommnisse beim Umzug gleichermassen verantwortlich gemacht: ein Novum in der Schweizer Rechtspraxis.

Neben der neuen Praxis haben auch auf gesetzlicher Ebene in den letzten Jahren mehrere Verschärfungen stattgefunden. So sieht etwa das 2018 revidierte Polizeigesetz im Kanton Bern vor, dass Demoorganisatorinnen und -teilnehmer bei Ausschreitungen die Kosten für den Polizeieinsatz tragen müssen – und zwar bis zu einer Höhe von 30 000 Franken pro Person. Nach dem G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 wollte CVP-Ständerat Beat Rieder zudem zwingende Haftstrafen für den Straftatbestand des Landfriedensbruchs einführen. Seine Motion scheiterte schliesslich im Nationalrat und war damit vom Tisch.

Ein Tatbestand findet sich immer

«Den Landfriedensbruchartikel wollen die Bürgerlichen immer verschärfen», sagt der emeritierte Basler Strafrechtsprofessor Hans Vest. «Der Tatbestand ist eine Konstruktion, um eben gerade jene zu bestrafen, denen man keine Beteiligung an Gewalttätigkeiten vorwerfen kann.» Er diene als Beweiserleichterung für die Strafbehörden.

Vest kritisiert, dass sich politische AktivistInnen entscheiden müssten, ob sie demonstrieren gehen und dabei riskieren, sich strafbar zu machen – oder aber unter Verzicht auf die Ausübung der Versammlungsfreiheit zu Hause bleiben. Man müsste den Tatbestand Landfriedensbruch «revidieren und einschränken» – wie dies etwa in Deutschland der Fall ist, wo der Artikel nur die aktive Teilnahme an Scharmützeln erfasst.

Das Klima, das den neu erstarkten sozialen Bewegungen hierzulande derzeit entgegenschlägt, ist repressiv – dafür lassen sich neben den Gerichtsurteilen in Basel auch verschiedene andere Beispiele finden. Weil KlimaaktivistInnen im Sommer 2019 in Lausanne eine Brücke und in Zürich und Basel Banken blockierten, verschickten die kantonalen Staatsanwaltschaften insgesamt mehrere Hundert Strafbefehle.

Die Tatbestände reichten von Haus- und Landfriedensbruch bis zu Sachbeschädigung und Nötigung. Zahlreiche dieser Fälle werden in den kommenden Monaten vor Gericht verhandelt. Und während am Donnerstag in Basel der Prozess rund um die Matthäuskirchendemo stattfindet, verurteilt das Waadtländer Kantonsgericht in zweiter Instanz zwölf AktivistInnen, die aus Protest gegen das klimaschädliche Gebaren der Credit Suisse in einer Filiale Tennis gespielt haben.

Engagement als Privileg

Welche Auswirkungen hat die harte Praxis von Justiz und Polizei auf die Betroffenen? Die WOZ hat mit sieben AktivistInnen gesprochen, aus Angst vor Konsequenzen wollen alle anonym bleiben. Was aus ihren Erzählungen hervorgeht: Die Repression der Behörden schränkt ein und belastet.

«Sirenen und der Anblick von Kastenwagen ängstigen mich, ich fürchte mich, diese Form der Gewalt noch einmal zu erleben», sagt Nina Jucker*. Die 22-Jährige war am 1. Mai in Zürich festgenommen und für mehrere Stunden in Einzelhaft gesteckt worden, als sie im Rahmen einer Aktion der feministischen Gruppe Ni una menos ein Infoplakat gegen häusliche Gewalt an einen Hauseingang klebte. Plötzlich, erzählt sie, sei sie mehr als einem Dutzend Beamten in Vollmontur gegenübergestanden.

Während der Verhaftung habe sie eine Panikattacke erlitten und um medizinische Betreuung gebeten, stattdessen sei sie mehrere Stunden lang in einer Einzelzelle festgehalten und verhört worden. «Erst zu Hause wurde mir klar, wie sehr mir dieser Vorfall zugesetzt hat, seither kann ich nicht mehr an politischen Aktionen teilnehmen», sagt Jucker. Sie ist wütend, weil die Repression erfolgreich gewesen sei. Die Zürcher Stadtpolizei kann sich auf Anfrage nicht zu dieser konkreten Situation äussern: Am 1. Mai gebe es in Zürich jeweils mehrere Verhaftungen.

Sich zu engagieren, sei auch eine Privilegienfrage, sagt derweil Daria Novak*, eine 23-jährige Klimaaktivistin. «Es ist doch ein Witz: Wer es sich etwa aufgrund fehlender Papiere nicht leisten kann, sich der Repression auszusetzen, kann ja aufgrund derselben fehlenden Papiere auch nicht parlamentarisch aktiv sein. Parlamentarisches Engagement schliesst auch Minderjährige aus, also einen grossen Teil der Klimabewegung.» Novak findet es zynisch, diesen Leuten nahezulegen, sich konstruktiv an der Demokratie zu beteiligen. «In dieser Demokratie hat es doch gar keinen Platz für sie.»

Nidal Goumri* war an der Flüchtlingsdemo in Bern, bei der der Polizeieinsatz aus dem Ruder lief. Der 37-jährige Aktivist mit Fluchterfahrung berichtet von Gewalt, dem Einsatz von Wasserwerfern und Gummischrot. «Wir wollten vom Parlament Antworten auf unsere Fragen. Wo sollen wir die denn sonst bekommen? Ohne roten Pass kannst du nicht wählen oder Politik machen, auf der Strasse will man uns aber auch nicht. Sollen wir schweigen, wenn uns Unrecht widerfährt?»

Dass es ein Privileg ist, sich gewissen Formen der Repression stellen zu können, wurde Goumri noch am gleichen Abend bewusst. «Die Klimajugendlichen baten uns um Unterstützung, falls der Platz bald geräumt werde. Leider mussten viele von uns gehen, denn ohne Papiere ist es gefährlich, an so einem Ort zu bleiben.»

Novaks und Goumris Einschätzungen teilen die meisten AktivistInnen, mit denen die WOZ gesprochen hat. «Wenn die Klimajugend von alteingesessenen Politikern aufgefordert wird, doch einfach eine Initiative zu lancieren, kommt das einer Absage an die Dringlichkeit ihrer Anliegen gleich», sagt etwa Anja Unternährer*. «Gerade bei den Klimaaktivisten sehe ich aufgrund der Repression auch eine Radikalisierung», so die 25-Jährige.

Furcht und Schrecken im Bundeshaus

Die Woche, in der in Basel und Lausanne harte Urteile gegen AktivistInnen gesprochen werden und in Bern der Bundesplatz besetzt und wieder geräumt wird, endet am Freitag unter der Bundeshauskuppel: Mit deutlicher Mehrheit winkt das Parlament zwei Vorlagen im Antiterrorbereich durch – und schafft damit ein in seiner Härte fast einzigartiges Gesetz. Kommt es zur Anwendung, könnte auch die Repression gegen ausserparlamentarischen Protest noch einmal zunehmen.

Zum einen wird das Strafrecht um eine eigene Terrorismusdefinition erweitert, deren Auslegung inskünftig der Judikative obliegt. Zum anderen werden präventive Massnahmen gegen sogenannte GefährderInnen ins Gesetz geschrieben. Künftig wird es den Sicherheitsbehörden überlassen sein, eine Person als gefährlich einzustufen und entsprechende Mittel zu ergreifen – von Fussfesseln über Wegweisungen oder Rayonverbote bis hin zu Hausarrest.

Besonders fällt dabei die Definition einer «terroristischen Aktivität» auf: Als solche gelten «Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung», die mit der «Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden». Dass darunter neben Islamismus auch Rechts- oder Linksextremismus fallen kann, hatte Justizministerin Karin Keller-Sutter in der Parlamentsdebatte mehrfach betont. Womit man «Furcht und Schrecken» verbreitet, ist dann Auslegungssache. Potenziell könnten auch die BesetzerInnen vom Bundesplatz somit zu «Gefährdern» werden.

Vielfach war im Vorfeld der Abstimmung im Parlament vor den weitreichenden Folgen der beiden Vorlagen gewarnt worden, die Kritik daran nahm fast kein Ende. Der Europarat intervenierte ebenso wie diverse SonderberichterstatterInnen der Vereinten Nationen. Zuletzt hatten auch die renommiertesten Schweizer RechtsprofessorInnen Bundesrat und Parlament in einem Brief gebeten, die «höchst problematischen» Gesetze abzulehnen. Vergeblich.

Auch die Lausanner Rechtsprofessorin Evelyne Schmid hat den Brief unterschrieben. Neben den vielen inhaltlichen Knackpunkten des neuen Polizeigesetzes – Repression ohne ausreichende verfahrensrechtliche Garantien, Raum für Willkür, unzureichende richterliche Kontrolle oder Unvereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention – macht sie auf einen weiteren Punkt aufmerksam: «Wenn die Schweiz so ein Gesetz hat, wie soll sie dann international glaubwürdig für Menschenrechte einstehen und andere Länder davon abhalten, ähnlich schwammige Terrorismusdefinitionen als Rechtfertigung für Repression zu verwenden?»

Angesprochen auf die Verschärfungen der letzten Jahre, erwähnt Schmid einen möglichen «chilling effect», ein Begriff aus der US-Rechtsprechung, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zuweilen in seiner Argumentation verwendet: Vorlagen wie das neue Polizeigesetz, aber auch die kantonalen Polizeigesetze oder schwammige Artikel wie der Landfriedensbruch könnten abschreckend wirken.

«Solche Gesetze können zur Folge haben, dass Menschen Angst haben, ihre demokratischen Rechte auszuüben», sagt die Professorin. Deshalb müsse bei der Auslegung solcher Gesetze nicht nur der Einzelfall betrachtet werden, sondern immer auch die potenziellen Folgen für die Gesellschaft und die in einer Demokratie zentrale Meinungsfreiheit.

Der Furor, mit dem gegen vermeintliche Störerinnen und Gefährder vorgegangen wird, richtet sich also gegen die Gesellschaft als Ganzes. Und auch wenn weiter an der Repressionsschraube gedreht wird – gänzlich von ihrem Engagement abbringen lassen sich die Protestierenden noch nicht. Lukas Frei zumindest, der auf dem Bundesplatz auf die Gewalt der Beamten aufmerksam machte, will sich nicht einschüchtern lassen. «Auch wenn das Ganze für mich eine Grenzerfahrung war, werde ich trotzdem weitermachen, die Solidarität unter den Aktivisten gibt mir Zuversicht.»

* Namen geändert.

Begriffskunde

Von einer Schande zur nächsten

«Immigration, Black Sheep and Swiss Rage», titelte die «New York Times». Darunter das Bild einer schwarz vermummten Person, vor ihr ein Wasserwerfer, dahinter der Berner Zytgloggeturm. Am 8. Oktober 2007 kumulierte ein aufgeheizter Wahlkampf samt rassistischem Schäfchenplakat darin, dass rund 500 Personen des Komitees Schwarzes Schaf eine SVP-Kundgebung in der Berner Innenstadt blockierten. Aus Blockaden wurde eine Strassenschlacht, ein Dutzend Vermummter stürmte das Festgelände auf dem Bundesplatz, es kam zu hohem Sachschaden und Dutzenden Verletzten auf beiden Seiten.

Der Tag verhalf der Bundeshauptstadt für einen kurzen Moment zu internationaler Aufmerksamkeit. Die umgekippte überlebensgrosse Swiss-Milk-Kanne wurde zu einem Symbol für die sogenannte Schande von Bern: einen «Krawall, der die Schweiz veränderte», wie die «BZ Basel» zum zehnjährigen Jubiläum titelte.

Die rechte Gruppe Aktion für die Sicherheit der Schweiz (Sifa) sprach letzte Woche ebenfalls von einer «Schande von Bern» – und meinte die Bundesplatzbesetzung. Neben den Ausrufen und Tweets über «Klimaterroristen» und «Demokratieverächter» ist diese Wortwahl Ausdruck dafür, wie sich der Diskurs in den letzten dreizehn Jahren verschoben hat.

2007 berichteten verschiedene Medien von Demotourismus: «Auffallend oft wurde Hochdeutsch gesprochen», schrieb damals der «Blick». Letzte Woche twitterte SVP-Nationalrat Roger Köppel wiederum: «Warum reden so viele dieser Klima-Extremisten auf dem Bundesplatz Hochdeutsch? Sind die eingeflogen worden?» Und in einem Interview mit der Newsplattform «Nau» äusserte FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann die Vermutung, «ausländische Organisationen» hätten das Management der Platzbesetzung übernommen.

Mit einem parlamentarischen Vorstoss fordert Portmann nun, dass der Bundesrat «die Hintermänner des Protests», die «hinter der Aushöhlung des Rechtsstaats» stehen, schnellstmöglich ausfindig machen soll. In dieser Hinsicht hat sich der Diskurs über Protest in den letzten dreizehn Jahren offenbar nicht verändert.  

Natalia Widla