«Das System muss hinterfragt werden»

Die Südostschweiz

Paolo Capelli engagiert sich in Landquart für die Jugendlichen und mehr Toleranz

Gewalttätige Nazi-Skins wie die rechtsextreme Gruppie-rung Division Rätia, die von Landquart aus operiert, beschäftigen Paolo Capelli seit längerem. Der in Landquart tätige Theologe fordert ein Umdenken in der Gesellschaft.

· mit Paolo Capelli sprach Salvatore Pittà

Herr Capelli, in Ihrer Funktion haben Sie viel mit Jugendlichen zu tun. Haben Sie Kenntnis von neonazistischen Umtrieben im Raum Unterlandquart (siehe auch Ausgabe vom 15. April)?

Ich habe selbst Erfahrungen damit gemacht. Ich war am 10. September 2004 als Aufsichtsperson bei der Schülerdisco im Forum Ried anwesend, als etwa sieben Nazi-Skins versuchten, sich dort Eingang zu verschaffen. Nach einem einstündigen Gespräch musste ich die Polizei zu Hilfe rufen, weil sie sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen wollten. Es entstand zwar kein Sachschaden, doch ich konnte beobachten, wie einige der Skins einem schwarzen Menschen nacheilten, um ihn zu verprügeln. Glücklicherweise konnte er ihnen entkommen. Meines Wissens verzichtete er auf eine Anzeige.

Haben Sie weitere Erfahrungen mit Nazi-Skins im Raum Landquart gemacht?

Direkt nicht. Doch im Gespräch mit hiesigen Jugendlichen erfuhr ich von weiteren gewalttätigen Übergriffen und Störaktionen. Es gibt jedoch auch vereinzelte andere gewaltbereite Jugendliche, die hin und wieder Probleme bereiten.

Sprechen Sie damit Vorfälle rund um den Jugendraum im Forum Ried an?

Für grössere Anlässe mieten wir den Raum im Forum Ried. Diese Anlässe sind meist ohne grosse Probleme durchgeführt worden. Durch die Präsenz einer erwachsenen Person und dank des intensivierten Sicherheitsdispositivs vor Ort fühlen sich die Jugendlichen besser geschützt. Ausserdem gilt Alkohol- und Rauchverbot. Ich konnte oft beobachten, wie einzelne Jugendliche aus Langeweile Streit gesucht haben. Doch zu regelrechten Schlägereien ist es nicht mehr gekommen.

Welchen Hintergrund haben Ihrer Meinung nach diese Eskalationen?

Die Gewaltbereitschaft bei jungen Menschen hat vielleicht zugenommen. Doch das ist ein generelles Problem. Ich denke, dass es in Landquart nicht mehr Jugendgewalt oder gar mehr Fremdenhass gibt als anderswo. Im Gegenteil: Der grösste Teil der Jugendlichen ist durch das Zusammensein mit Ausländern in der Schule an fremde Kulturen gewöhnt. Sie haben kaum Probleme mit ihnen. Es gibt aber meines Wissens eine Gruppe von zwölf bis 20 Neonazis im Raum Landquart. Sie sind bekannt, weil sie auch durch ihr äusseres Auftreten auffallen. Sie sind aber in der Jugendszene eine Minderheit von Aussenseitern. Sicher kann man sagen: Wenn sie lokal oder regional organisiert sind, wenn sich eine Struktur gebildet hat, ist die Gefahr grösser, dass die Neonazis gezielt gegen andere Jugendliche vorgehen.

Können Sie uns mehr von dieser Gruppe erzählen?

Einzelne kenne ich aus dem Religionsunterricht oder aus einem anderen Umfeld. Heute sind sie zwischen 16 und 20 Jahre alt, daher habe ich keinen Zugang mehr zu ihnen. Meine Ausführungen basieren hauptsächlich aus Gesprächen mit Jugendlichen aus dem Umfeld unseres kirchlichen Engagements, namentlich im Jugendtreff Relax. Einige Schüler erzählten mir, dass auch sie von Neonazis angesprochen wurden. Von Flugblattaktionen oder Ähnlichem habe ich keine Kenntnis.

Die Gemeinde Igis-Landquart hat eine Arbeitsgruppe Jugendarbeit eingesetzt, bei der Sie mitwirken. Wie weit sind Sie fortgeschritten?

Zur Arbeitsgruppe gehören Mitglieder des Gemeinderates, der beiden Kirchgemeinden sowie Jugendliche, die sich bereits im Jugendtreff engagieren. Zurzeit arbeiten wir am Konzept für einen neuen, professionell geführten Jugendraum, in dem auch 16- bis 20-Jährige verkehren dürfen. Das Projekt ist erst in der Planungsphase. Es ist noch abzuklären, wie hoch der finanzielle Beitrag der Gemeinde und beider Kirchen sein wird. Ich bin aber sehr froh, wenn die Politische Gemeinde endlich ernsthafte Schritte in diese Richtung unternimmt. Der Bedarf nach einem entsprechenden Treffpunkt für Jugendliche ist schon lange bekannt. Wir gehen jetzt davon aus, dass das Projekt nächstes Jahr gestartet werden kann.

Die Kirchen sind schon lange in Landquart mit Jugendarbeit betraut. Warum hat es Ihrer Meinung nach so lange gebraucht, bis die Gemeinde beschloss, selbst etwas in diese Richtung zu unternehmen?

Die Gemeinde engagierte sich bisher vor allem im Sport- und im Jugendverein, meist in Form finanzieller Unterstützung. Dass in der offenen Jugendarbeit lange nichts geschehen ist, liegt am Willen, an den finanziellen Möglichkeiten, und ? ich vermute ? daran, dass sich bei der Gemeinde lange niemand dafür zuständig fühlte. Das hat sich inzwischen geändert.

Kritische Stimmen behaupten, ein alkoholfreier Raum werde ohnehin nicht diejenigen Jugendlichen ansprechen, die sich auch bisher nicht einbinden liessen.

Meine Erfahrung ist, dass das Interesse der jungen Menschen, sich aktiv einzubringen, von der Art des Jugendraumes, vom Programm und vom angebotenen Freiraum abhängt. Zudem wird der Jugendraum sowieso nicht durchgehend geöffnet sein. Die Jugendlichen werden also weiterhin anderweitig Alkohol konsumieren können, wenn sie wollen.

Man kann Jugendliche ansprechen, indem man sie aufsucht, anstatt auf sie zu warten.

Das wäre gewiss ein weiteres Handlungsfeld. Wir haben dies in der Arbeitsgruppe noch nicht konkret diskutiert. Wenn der angestellte Jugendarbeiter oder die Jugendarbeiterin genügend Zeit zur Verfügung hat, kann diese Person auch mehr in dieser Richtung unternehmen. Man muss sich aber auch bewusst machen, dass mit den angesprochenen Massnahmen die Probleme der Jugendlichen nicht einfach so, von heute auf morgen, gelöst werden können. Genauso wenig kann damit verhindert werden, dass sich extreme Gruppen im Untergrund bilden. Die Fremdenfeindlichkeit ist ein gesellschaftliches Problem. Da sind alle gefordert: Familie, Schule, Wirtschaft, Politik und Behörden. Wenn gewisse Politiker zum Beispiel mit ihren Reden und Statements den Fremdenhass schüren, muss man nicht erstaunt sein, wenn Jugendliche ihren Frust ablassen, indem sie auf Ausländer losgehen.

Sprechen Sie damit die Töne an, die bezüglich der Abstim- mungskampagne rund um das Asyl- und Ausländergesetz angeschlagen worden sind?

Ich spreche diese nicht direkt an, aber die Art und Weise, wie das Thema «Asyl» behandelt wird, und die Verschärfung dieser Gesetze in der letzten Zeit sind für mich auch Ausdruck einer gewissen Fremdenfeindlichkeit. Und das hat auch Auswirkungen auf die Jugendlichen.

Was denken Sie persönlich über die Verschärfungen der beiden Gesetze?

Ich bin froh, dass so viele Organisationen und auch kirchliche Kreise aktiv geworden sind und dass das Referendum zustande gekommen ist. Ich denke, dass sich die Schweiz in Bezug auf Asylsuchende humaner verhalten müsste. Ich kann als Christ nicht akzeptieren, dass Asylsuchende praktisch wie Verbrecher behandelt werden. Aber das ist ein anderes Thema.

Gehen wir also zurück zur Landquarter Jugend: Hat es die Gemeinde verpasst, Aufklärungsarbeit zu leisten?

Aufklärvungsarbeit ist ein Teil der Prävention. Vielleicht wurde in dieser Hinsicht zu wenig unternommen. Handlungsbedarf besteht immer noch im Hinblick auf Neonazis, auf Gewalt- und Suchtprävention. Gewalt entsteht bei Jugendlichen da, wo sie keine echte Perspektive haben oder keine sehen. Viele, die sich von rechtsextremen Kreisen ansprechen lassen, gehören zu den Verlierern der heutigen Gesellschaft. Mit einem neuen Raum und professioneller Jugendarbeit können wir ihnen zwar keine Lehrstelle beschaffen. Doch wir können sie unterstützen. Ein offener Jugendraum ist ein wichtiger Ort der Integration und des sozialen Lernens.

Wären da nicht weitergehendere Massnahmen oder gar ein Umdenken der Wirtschaft und Politik vonnöten?

Ein System, das Menschen zu Aussenseitern macht, ein System, in dem selbst ein Teil der heutigen Jugend sich ausgeschlossen fühlt, muss sicherlich hinterfragt werden. Genau so wie unser eigener Konsum und Lebensstil auch hinterfragt werden muss. «Umdenken» ist ein gutes Stichwort. Aber eine fertige Lösung kann ich hier nicht liefern.

Eine ganz andere Frage: Ideologisch lehnt sich die Division Rätia an die keltische Kultur an. Worin besteht die «alte keltische Religion»?

Das weiss ich nicht genau. Ein Aspekt erscheint mir dabei die Ablehnung des Christentums. Ich vermute, dass die Gruppe sich damit eine eigene ideologische Grundlage geben will. Symbole, Rituale ? eine Art eigene Sprache. Das unterstreicht ihre Distanzierung von der christlichen Kultur, stärkt ihr Selbstwertgefühl und ihr Gruppenbewusstsein.

Da sind die Landeskirchen direkt angesprochen.

Wir sind tatsächlich stark gefordert. Die Kirchen müssen versuchen, bei den Jungen präsent zu bleiben. Junge Menschen suchen Orientierung, und sie suchen starke Vorbilder. Die Kirche bietet hierbei Orientierung. Sie kann Respekt und Werte wie die Würde jedes Menschen vermitteln. Das ist aber eine lange und intensive Arbeit. Die Jugend ist heute ein Schwerpunkt der kirchlichen Arbeit, wenigstens bei uns in Landquart. Neben dem ökumenischen Jugendtreff gibt es Filmkurse. Dazu begleiten wir junge Menschen im Religionsunterricht, in einer Ministrantengruppe, in der Jubla (Jungwacht und Blauring). Dieser Einsatz der Kirchen für die Jugend ist vielleicht nicht allen bekannt. Doch selbst durch diese verschiedenen Angebote können nicht alle Jugendlichen erreicht werden.

Mit Jugendarbeit erreichen Sie aber den harten Kern der Nazi-Skins kaum. Wäre da nicht ein härteres Vorgehen angesagt, beispielsweise seitens der Polizei?

Das ist eine politische Frage. Die Behörden und die Bevölkerung müssen entscheiden, ob und wie sie dieses Phänomen bekämpfen wollen. Die Polizei ist sicherlich auch darüber bestens informiert. Ihre Aufgabe ist es, strafbare Handlungen zu ahnden, egal, aus welchen Motiven diese geschehen. Doch die Polizei schreitet nicht ein, wenn keine Anzeige erstattet wird.

Letzten Samstag demonstrierten etwa 50 Jugendliche in Landquart gegen Rassismus. Wie beurteilen Sie die Aktion?

Ich habe diese Aktion nicht selbst erlebt. Vieles deutet auf eine direkte Provokation hin. Es ist wichtig, dass auf das Thema hingewiesen wird. Das kann jedoch auch ohne Sachbeschädigungen geschehen. Am letzten Samstag wurden Personen in Mitleidenschaft gezogen, die nichts mit Neonazis zu tun haben. Inzwischen habe ich auch mit einigen hiesigen Schülern geredet. Sie wussten nicht genau, worum es bei der Demo ging. Einige dachten gar, es handle sich bei den Demonstranten um Neonazis. Persönlich finde ich in diesem Fall das Besprayen einer Hauswand ein kleineres Übel. Schlimmer finde ich es, wenn man das Treiben von Nazi-Skins gewähren lässt, indem man einfach nur wegschaut und nichts sagt.