Prozesslawine

heute

Es komme zu einer Prozesslawine, den Schweizern werde ein Maulkorb verpasst. Solche Befürchtungen äusserten die Gegner vor der Abstimmung. DasGegenteil ist eingetroffen.

Bekannt wurde bis heute erst ein einschlägiges Urteil: Im August 1995 bestrafte die Jugendanwaltschaft Uster einen Lehrlingmit 14 Tagen Arbeitsleistung. Er war bei Ausschreitungen auf dem Zürcher Hirschenplatz dabei (Landfriedensbruch) und hatte bei einer Bushaltestelle denrassistischen Spruch „Wir kriegen euch alle ihr ScheiSSkanaken“ angebracht.

Feigel: „Unglaublich langsam“
Rassistische Hetze muss von Amtes verfolgt werden. Trotzdem sind die Untersuchungsbehörden bisher nur in Ausnahmefällen von sich aus tätiggeworden: So eröffnete der Neuenburger Staatsanwalt und FDP-Ständerat Thierry Béguin eine Untersuchung gegen das Skinheadmagazin „Mjölnir“, dasdie Opfer des Holocaust verspottete. Und die Ausserrhoder Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren gegen die antisemitische Sekte Universale Kirche ein.

In allen übrigen Fällen ging ohne Strafanzeige oder öffentlichen Druck nichts. Der Zürcher Anwalt Sigi Feigel versucht deshalb immer wieder, der JustizBeine zu machen. Er erstattete nicht nur gegen Walter Fischbacher Anzeige, sondern auch gegen Holocaustleugner wie Jürgen Graf und Andreas J. Studersowie gegen den Verleger solcher Publikationen, Gerhard Förster.

Weckt das alles nicht den Verdacht, die Strafjustiz befasse sich nur widerwillig mit solchen Verfahren? Feigel will nicht verallgemeinern. Es komme sehrdarauf an, wer zuständig sei: „Man merkt, wer an der Urne ja und wer nein gestimmt hat.“ Die Strafuntersuchungen schleppten sich aber unglaublichlangsam dahin, kritisiert er. So habe er bereits am 25. April des letzten Jahres beim Bezirksamt Baden Anzeige gegen Jürgen Graf eingereicht: „Doch bisheute habe ich keine Meldung über einen Verfahrensfortschritt erhalten.“

Kein Papiertiger
Tut sich die Justiz vielleicht so schwer damit, weil der Gesetzestext zuwenig klar ist? Der Strafrechtler Marcel Niggli arbeitet zurzeit an einem juristischenKommentar über die neue Strafbestimmung. Er äussert Verständnis für die Zurückhaltung der Behörden: „Es gibt ganz einfach Anfangsschwierigkeitenbei der Auslegung. Schliesslich liegen noch keine Grundsatzentscheide vor.“ Auch der Berner Gerichtspräsident Alexander Tschäppät warnt vor voreiligerKritik. Die neue Bestimmung sei kein Papiertiger, zumindest habe sie ihre präventive Wirkung bewiesen. „Manch einer verzichte darauf, rassistischeSprüche zu klopfen, weil er weiss, dass Rassendiskriminierung verboten ist.“

 

Deutsche Unwissenheit hilft Schweizer Neonazis

Antirassismusgesetz in Deutschland nicht bekannt

Der deutsche Zoll beschlagnahmt regelmässig Neonazi-Schriften, die per Post aus der Schweiz nach Deutschland geschickt werden. Die Absenderkonnten ruhig sein: Die deutschen Strafverfolgungsbehörden kennen das Schweizer Antirassismusgesetz nicht.

Autor: VON FELIX MAISE, BASEL

„Nein, davon habe ich noch nichts gehört“, sagt Basels erster Staatsanwalt Thomas Hug auf die Frage des TA, ob er wisse, dass der deutsche Zoll in Weilam Rhein, der den ganzen schweizerisch-deutschen Briefverkehr kontrolliert, regelmässig Briefe und kleine Pakete mit Neonazi-Schriften aus der Schweizbeschlagnahme. In dieser Angelegenheit seien bisher keinerlei Informationen von Lörrach nach Basel gekommen.

Rolf Stolpe, für das deutsche Zollpostamt Weil am Rhein zuständiger Oberstaatsanwalt in Lörrach, bestätigt, dass man neonazistische Sendungen bisherals rein deutsche Angelegenheit betrachtet habe. Dass die Schweiz seit dem 1. Januar 1995 ein Antirassismusgesetz hat, welches die öffentlicheVerbreitung etwa der Auschwitzlüge unter Strafe stellt, wusste er nicht. Verfolgt habe man allenfalls die Empfänger der Sendungen in Deutschland.

Doch auch hier ist der Eifer der Strafverfolgungsbehörden nicht gross: Die Staatsanwaltschaft Lörrach gebe die beschlagnahmten Sendungen jeweils derStaatsanwaltschaft am Wohnort des Empfängers weiter, die dann abkläre, ob sich der Adressat strafbar mache, erklärt Stolpe. Was dort damit passiere,wisse er nicht, er glaube aber, dass die meisten Abklärungen im Sande verliefen. Das sagt auch der Leiter der für die Paketpost Schweiz-Deutschlandzuständigen Zollabfertigung bei der Internationalen Frachtstelle in Speyer, die ebenfalls Neonazi-Material beschlagnahmt. Verboten ist in Deutschlandnämlich nicht der Besitz von rassistischen Schriften, nur deren Verbreitung und die Abgabe an Jugendliche. Und verbreitet hat die Schriften ja einSchweizer Absender.

Schweizer wären interessiert

Interessanter wären die Sendungen deshalb für die Schweizer Strafverfolgungsbehörden. In mehreren Kantonen laufen nämlich Verfahren gegen Verlageund rechtsextreme Exponenten, so etwa in Basel und beim Bezirksamt Baden gegen den Revisionisten Jürgen Graf und sein Buch „DerHolocaust-Schwindel“, das ein Aargauer verlegt. Thomas Hug wurde nach der TA-Anfrage auch sofort aktiv und nahm Kontakt mit Lörrach auf. Ob sichdort in absehbarer Zeit allerdings etwas ändert, bleibt fraglich: Wenn die Schweizer Strafverfolgungsbehörden über solche Sendungen tatsächlichinformiert werden wollten, sollten sie doch bitte offiziell darum ersuchen, meinte Stolpe.

Schuld an der eher lauwarmen Haltung der deutschen Stellen sind nicht allein träge Staatsanwälte, sondern auch der komplizierte Verfahrensablauf.Lörrach und Speyer entscheiden nur über die Beschlagnahmung der Briefe und Pakete. Die weiteren Abklärungen treffen dann die zuständigen Stellen amOrt des Empfängers, wo naturgemäss jede Sendung als wenig alarmierender Einzelfall erscheint.

Persilschein für Rassisten?

Autor: VON BARBARA HASLER

Wer Juden und Nazis auf eine Stufe stellt, ist kein Antisemit. Wer behauptet, die „Welt-Zionisten“ – damit können ja wohl nur Juden gemeint sein -betrieben „Rassismus in Reinkultur“ und seien von „beispielloser Selbstüberheblichkeit“, setzt Angehörige einer Rasse oder Religion weder herab, nochverleumdet er sie. Was müsste denn einer noch sagen, damit er ein richtiger Antisemit ist?

Der St. Galler Arzt Walter Fischbacher habe für seine wirren jüdischen Weltverschwörungstheorien eine „gute Erklärung“ gehabt, findet der St. GallerUntersuchungsrichter Jules Wetter. Andere hätten diese Theorien ja auch schon vertreten. Die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe, wird aber auch nichtweniger falsch, wenn man sich dabei auf Autoren der Antike abstützt.

Rechtsextreme leben davon, dass einer dem andern abschreibt, um die eigene Unwahrheit glaubwürdiger zu machen. Es gibt nicht nur zahlreiche Schriftenüber den angeblichen Weltzionismus, es gibt auch jede Menge Bücher, die behaupten, die Gaskammern von Auschwitz hätten niemals existiert. Oder wiewürde derselbe St. Galler Untersuchungsrichter denn argumentieren, wenn einer käme und behaupten würde, die weisse Rasse sei den andern überlegenund Juden gehörten deshalb ausgerottet? Auch dazu sind schon Bücher geschrieben worden. Hitlers „Mein Kampf“ zum Beispiel.

Es ist egal, ob irgend jemand die abstrusen Theorien von Walter Fischbacher ernst nimmt oder nicht. Entscheidend ist, dass die Verbreitung vonrassistischen und antisemitischen Äusserungen verboten ist. Ein Untersuchungsrichter darf ein Verfahren nur dann einstellen, wenn von vorneherein klarist, dass kein Gesetzesverstoss vorliegt. Und das kann man im Fall Fischbacher nun weiss Gott nicht behaupten. Ob er ein Antisemit ist oder nicht, hat einGericht zu entscheiden.

Gesetze, die nicht vollzogen werden, sind nichts wert. Das illustriert nicht nur der Fall Fischbacher. Warum braucht es in aller Regel Strafanzeigen undöffentlichen Druck, bis die Behörden überhaupt Ermittlungen aufnehmen, obwohl sie von sich aus dazu verpflichtet wären? Warum schleppen sichStrafuntersuchungen über Monate dahin, obwohl die Fakten auf dem Tisch liegen?

Wenn die Rassismus-Strafnorm verwendet wird, um Rassisten und Antisemiten einen Persilschein auszustellen, haben die Gegner des Gesetzes ihr Zielerreicht. Ein so leichtfertiger Umgang mit dem Antirassismusgesetz ist eine förmliche Einladung an die Täter, munter weiterzumachen. Das ist exakt dasperverse Gegenteil dessen, was die Rassismus-Strafnorm bewirken soll.