Rechtsrum vernetzt

 

St. Galler Tagblatt vom 17.11.2011

Reicht das Neonazi-Netzwerk, das mit einer Schweizer Waffe mordete, bis in die Schweiz? Kenner der Szene halten das für unwahrscheinlich.

 

 

Seit Tagen hält die Mordserie einer Neonazi-Zelle Deutschland in Atem. Nein, die Deutschen hätten noch kein Rechtshilfegesuch gestellt, sagt Danièle Bersier, Sprecherin der Bundespolizei (Fedpol) auf Anfrage. Das aber ist nötig, damit die Fedpol den Fall der aus der Schweiz stammenden Waffe, mit der Neonazis vermutlich mindestens zehn Menschen getötet haben, nochmals aufrollt. «Wir brauchen neue Erkenntnisse», sagt Bersier, «und die müssten aus Deutschland kommen». Dies vor dem Hintergrund, dass die Bundespolizei auf Wunsch Deutschlands bereits vor eineinhalb Jahren nach dem Verbleib der insgesamt 24 Waffen des betreffenden Typs gefahndet hat. Man habe «intensiv gesucht», so Bersier. Und hat auch etwas gefunden: 16 der 24 Pistolen – die restlichen 8 sind weiter verschollen.

«Vorstellbar ist vieles»

Solange aus Deutschland keine neuen Erkenntnisse eintreffen, muss auch die Frage einer möglichen Vernetzung rechtsextremer Kreise in Deutschland und der Schweiz offen bleiben. Kenner der Szene halten dies für ziemlich unwahrscheinlich. «Vorstellbar ist zwar vieles», sagt der Rechtsextremismus-Experte und Journalist Hans Stutz. Er betont aber gleichzeitig, es gebe bis anhin keine Hinweise darauf, dass die betreffende Waffe direkt über einen Schweizer Neonazi-Kanal nach Deutschland gelangt sei. Auch fehle jedes Indiz für eine institutionalisierte rechtsextreme Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg. «Oder dann machen sie es so konspirativ, dass es bis jetzt niemand wahrgenommen hat.»

Daran glauben mag Stutz allerdings nicht. Denn mit der «Europäischen Aktion» (EA) gebe es lediglich eine rechtsextreme Gruppierung, die eine langfristige internationale Zusammenarbeit in der Szene anstrebe. Stutz: «Das ist der erste europaweite Versuch zur Koordination.» Und bis anhin auch der einzige. Ansonsten seien die länderübergreifenden Kontakte zwischen Rechtsextremen eher informeller Natur. Man trifft sich, plant und koordiniert höchstens einzelne Veranstaltungen, aber keine längerfristigen Unternehmungen.

«Keine Anhaltspunkte»

Ein Befund, dem der Thurgauer Regierungsrat Claudius Graf-Schelling (SP) nur zustimmen kann. Graf-Schelling ist als Sicherheitsdirektor für den Staatsschutz im Ostschweizer Grenzkanton zuständig, der in der Vergangenheit immer wieder Schauplatz von Rechtsradikalen-Treffen gewesen ist. Er bestätigt zum einen den schweizweit beobachtbaren rückläufigen Trend in der rechtsextremen Szene (siehe Kasten). Im Thurgau sind derzeit 20 Skinheads aktiv – aber das vergleichsweise isoliert. «Wir haben keine Anhaltspunkte für eine Vernetzung.» Auch nicht Richtung Deutschland. Die Leute, die im Thurgau als Rechtsextreme auffielen, hätten alle einen Schweizer Pass. Ebenso gebe es keine Indizien für das Entstehen einer gewaltbereiten Zelle.

Den Thurgauer Rechtsextremen zum Beispiel fehle, so Graf-Schelling, ein eigentlicher Kopf – «zum Glück». Denn ein einzelner könne in diesem Zusammenhang sehr viel anrichten, vor allem wenn er auch noch über Charisma verfügen sollte.

Damit der Thurgau nicht zum Rückzugsraum für deutsche Neonazis wird, setzt Regierungsrat Graf-Schelling auf exemplarische Kontrollen. Die rechtsextreme Szene werde konsequent beobachtet. Das ist durchaus auch als Signal über die Landesgrenze hinweg gedacht: «Wir wollen, dass man weiss: Im Thurgau werden Rechtsextreme, wenn sie in Erscheinung treten, kontrolliert.» Bis jetzt sei diese Strategie aufgegangen.

Virtuell vernetzt

Auch wenn der Organisationsgrad schwach ist – wie alle anderen Bevölkerungsgruppen sind die Rechtsextremen über das Internet zumindest virtuell vernetzt und nutzen auch soziale Netzwerke. Hans Stutz sieht darin Licht und Schatten. Schatten, weil die Szene sich schneller gegenseitig informieren könne. Licht deshalb, weil das Internet auch den Einblick von aussen erleichtere.

Darüber hinaus sind für Wahnsinnstaten politisch Verblendeter auch keine Netzwerke notwendig. Als der rechtsextreme Anders Breivik im Juli im Raum Oslo mordete, sagte Peter Regli in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens: «Dies könnte auch in der Schweiz passieren.» Regli war Chef des im Bereich der inneren Sicherheit tätigen schweizerischen Nachrichtendienstes. Er muss es wissen. Christian Kamm

Treffen ja, koordinieren nein: Rechtsextreme bevorzugen den nationalen Alleingang.

Rund 1800 Rechtsextreme

Nach Schätzungen der Behörden zählt das rechtsextreme Lager in der Schweiz etwa 1800 Mitglieder. 1200 werden dem harten Kern zugerechnet und die restlichen 600 gelten als Mitläufer. Noch im Jahr 1990 umfasste der harte Kern nur etwa 200 Personen. Nachdem die Szene über 15 Jahre hinweg gewachsen war, blieb sie in den vergangenen Jahren in etwa konstant. Abgenommen hat hingegen die Zahl der vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB) festgestellten rechtsextremen Vorfälle. Nach dem 20-Jahres-Hoch mit 134 Vorfällen im Jahr 2000 war die Tendenz rückläufig. Zwischen den 2004 und 2007 wurden jährlich rund 110 rechtsextremistische Vorfälle gezählt. 2008 waren es dann deren 76, 2009 mit 85 wieder leicht mehr und im Jahr darauf deutlich weniger (55). Der NDB folgerte in seinem jüngsten Jahresbericht deshalb: «Die Lage im rechtsextremen Bereich hat sich in den letzten Jahren in der Schweiz nicht wesentlich verändert, inbegriffen der Trend, dass die Zahlen rückläufig sind.» (ck)

Planten Neonazis auch Anschläge auf Politiker?

Die Mordserie des Neonazi-Trios hat in Deutschland hektische Aktivitäten ausgelöst. Möglicherweise waren auch Anschläge auf Politiker geplant.Es ist durchaus brisant, was André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, dem Thüringer Verfassungsschutz vorwirft: «Ich glaube nicht, dass das Trio 13 Jahre lang unbeobachtet seine Kreise ziehen konnte und bei all seinen Taten – Bankrauben, Morden, Attentaten – keine einzige Spur hinterlassen haben soll.»

Mehr als nur Schlamperei

Anders formuliert heisst der Vorwurf, dass thüringische Verfassungsschützer ihre schützende Hand über die Neonazis Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gehalten haben. Was eine andere Qualität hätte als das, was dem Thüringer Verfassungsschutz ohnehin vorgeworfen wird: Schlamperei und Inkompetenz. Obwohl es beim Mörder-Trio schon im Januar 1998 Wohnungs- und Garagendurchsuchungen gegeben hatte, weil die drei verdächtigt wurden, Sprengstoffdelikte begangen zu haben, passierte damals gar nichts. Keine Verhaftung, im Gegenteil: die Gruppe tauchte ab und ward erst wieder gesehen, als die zwei Männer sich das Leben genommen hatten und ihre Komplizin mit Brandbeschleuniger dafür sorgte, dass ihr Versteck spektakulär in die Luft flog. Jahre, nachdem sie mordend durch die Republik zogen und mindestens zehn Menschen töteten. Der thüringische Innenminister Jörg Geibert sprach gestern davon, damals sei einiges «schiefgelaufen» bei einem «unorthodox» geführten Verfassungsschutz.

Was genau will Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) schon an diesem Freitag genau wissen. Die Innenminister der Länder sind aufgefordert, an einer kurzfristig angesetzten Krisenkonferenz eine «Pannen- und Fehleranalyse» vorzulegen. Aber auch rasche Entscheidungen sollen getroffen werden. Friedrich plant ein Zentralregister für Neonazis, in der «Daten über gewaltbereite Rechtsextremisten und politisch rechts motivierte Gewalttaten zusammengeführt werden» – so wie es das seit Jahren schon für islamistische Terrorverdächtige gibt.

NPD: Neues Verbotsverfahren?

Und wie Kanzlerin Angela Merkel erwägt Friedrich ein neues NPD-Verbotsverfahren. Ein Vorhaben, das bei Experten auf Kritik stösst. Die Forderung nach einem NPD-Verbot bezeichnete Hans-Peter Uhl (CSU) als innenpolitischer Sprecher der Union als «Aktionismus» und der Datenschutzbeauftragte Peter Schaar warnte vor übereiligen Schlussfolgerungen aus der Neonazi-Mordserie.

Täglich neue Enthüllungen

Doch gibt es täglich neue Enthüllungen, die besonnenem Handeln nicht den Weg ebnen. Gestern wurde bekannt, dass die Ermittler eine Liste gefunden haben mit Namen und Adressen von 88 Personen. Noch ist völlig unklar, ob die rechtsextreme Gruppe Anschläge plante etwa auf die Bundestagsabgeordneten Hans-Peter Uhl (CSU) oder Jerzy Montag (Grüne), die auf der Liste der Terroristen standen: «Das ist ein schreckliches Gefühl für mich», sagte Jerzy Montag und Uhl sagte: «Als ich hörte, dass mein Name auf der Liste steht, war ich schon erschrocken.» Beate Zschäpe, die laut Medienberichten gestern bei der Bundesanwaltschaft laut einem Ermittler «auspacken» wollte, sagte offenbar noch nichts – oder es wurde bislang nicht publik gemacht.

Mindestens ein Quartett

Mittlerweile gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass das Trio mindestens ein Quartett war, zu dem auch der vor Tagen verhaftete Holger G. zählte und möglicherweise noch mehrere andere Helfershelfer aus der braunen Szene. Im Bundesland Niedersachsen wurde ein Verdächtiger festgenommen und auch in Zwickau soll die Bande einen Helfer gehabt haben.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat angekündigt, jetzt mit einer 30köpfigen Sondereinheit nach untergetauchten Rechtsextremisten zu fahnden, einschlägige Kameradschaften zu überprüfen und deutlich zu machen, dass Deutschland nun energisch vorgehe gegen Rechtsextremismus.

Er soll entschlossener bekämpft werden – auch mit alten Rezepten wie der Vorratdatenspeicherung. Und, mit einer Gedenkveranstaltung für Angehörige der Neonazi-Opfer soll Bundespräsident Christian Wulff den von Deutschland befürchteten Image-Schaden minimieren.

 

Fritz Dinkelmann, Berlin