Sprayen ist nicht Morden

Die Wochenzeitung

Pöbeln, Drohen, Prügeln: Rechtsextreme sind immer wieder aktiv im Berner Oberland. Manchmal auch Schiessen: Letzten Sommer feuerte ein 26-jähriger Schweizer am Bahnhof Thun mehrere Schüsse auf eine Gruppe linker AktivistInnen ab und verletzte einen 17-Jährigen am Bein. Es gab also genug Gründe für die Gruppe Antifa Oberland, am letzten Samstag in Thun einen so genannten Antifaschistischen Abendspaziergang zu organisieren.

Aber niemand spazierte irgendwohin: Die etwa 350 DemonstrantInnen und einige zufällig Anwesende wurden gleich am Bahnhof von der Polizei eingekesselt. Interessante Neuerung diesmal: Die Polizei habe per Megafon bekannt gegeben, sie werde den vorgeschriebenen Mindestabstand für Gummischrot (zwanzig Meter) nicht einhalten, erzählt der Berner Anwalt und Demoteilnehmer Daniele Jenni. Danach habe sie immer wieder aus nächster Nähe auf Menschen geschossen. Ein Teil der Festgehaltenen habe aus dem Kessel ausbrechen wollen, deshalb sei der Einsatz von Gummischrot und Tränengas nötig gewesen, schreibt die Polizei in ihrem Communiqué. Jenni und die OrganisatorInnen betonen aber, es habe gar keinen Ausbruchsversuch gegeben. Der Abend endete wie viele verhinderte Demos in den letzten zwei Jahren: stundenlanges Warten, Personenkontrollen. Die FichiererInnen werden sich wieder einmal freuen.

Hättet halt ein Bewilligungsgesuch einreichen sollen! Das ist das Lieblingsargument von allen, die solchen Verhältnisblödsinn verteidigen. Auch von Thuns Polizeivorsteher Heinz Leuenberger (SP). Mit einem Bewilligungsgesuch probiert hat es diesen Sommer das Bündnis für ein buntes Brunnen. Es wollte am 1. August zu einem Protest gegen die Rütlinazis aufrufen. Das Gesuch wurde abgelehnt. Das Resultat: 600 bis 800 Rechtsextreme marschierten durch Brunnen und griffen mehrere Personen an. Die Polizei hinderte sie nicht daran. Zurückhaltung bei den Rechten, Durchgreifen bei den Linken, nach diesem Muster laufen Polizeieinsätze in den letzten Jahren immer wieder ab. Da half es auch nichts, dass die Thuner OrganisatorInnen diesmal ausdrücklich zu einem friedlichen Spaziergang aufriefen.

Über Szenen wie in Thun empört sich kaum noch jemand. Mitschuldig daran sind die meisten Medien, die die Polizeimeldungen unkritisch übernehmen, samt der absurden Gleichsetzung von «Linksextremen» und Neonazis. (Der «Tages-Anzeiger» schrieb im Zusammenhang mit dem 1. August von «rechten und linken Gangs».) Zur Erinnerung: «Linksextreme» schiessen nicht auf Menschengruppen, schlagen keine Jugendlichen zu Behinderten, und wenn einer aus der Antifa austritt, wird er auch nicht ermordet und im Thunersee versenkt. Wer solche Verbrechen Rechtsextremer ernsthaft mit Hausbesetzungen, Sprayereien, einem mit Veloschlössern blockierten Polizeiposten und anderen linken Übeltaten auf eine Stufe stellen will, hat ein ziemlich seltsames Rechtsempfinden.

Ein Blick über die Grenze: Eine Woche vor dem Kessel von Thun war in Friedrichshafen am Bodensee die halbe Stadt gegen eine angekündigte Neonazidemo auf den Beinen (siehe WOZ Nr. 41/05). Wenn es auch in der Schweiz gelänge, so viele «ganz normale» Menschen gegen Rechtsextremismus zu mobilisieren, könnte die Polizei linke DemonstrantInnen nicht mehr unwidersprochen so behandeln wie zum Beispiel in Thun.