Debatte über Rechtsextremismus in Deutschland

NeueZürcherZeitung

Ohnmacht gegenüber der Jugendgewalt in der früheren DDR

Der Bombenanschlag von Düsseldorf hat in Deutschland eine breite Diskussion über dieGefahren rechter Gewalt ausgelöst. Während die Bedeutung des organisiertenRechtsextremismus oft überschätzt wird, tun sich Justiz und Politik schwer damit, die vor allemin Ostdeutschland grassierende Jugendgewalt einzudämmen. Fehlende Entschlossenheit bei derBekämpfung des Phänomens kann man den Behörden allerdings kaum vorwerfen.

eg. Berlin, 2. August

Obwohl die Hintergründe des Bombenanschlags von Düsseldorf weiter ungeklärt sind, konzentriert sich dieöffentliche Diskussion auf die Möglichkeit eines rechtsextremistischen Tatmotivs. Diverse Politiker aus demRegierungslager, unter ihnen Aussenminister Fischer und Innenminister Schily, fordern in Stellungnahmen einstrenges Vorgehen gegen neonazistische Gewalttäter und appellieren an die Bürger, mit Zivilcourage rechtsradikalenUmtrieben Einhalt zu gebieten. Der in ähnlichen Situationen beliebte Ruf nach schärferen Gesetzen ist allerdingskaum zu vernehmen. Die Bundesrepublik besitzt ohnehin ein umfangreiches rechtliches Instrumentarium imHinblick auf politisch motivierte Delikte, ganz abgesehen von den Paragraphen des Strafgesetzbuchs bei Tatengegen Leib und Leben. Eine Konferenz von Staatssekretären der zuständigen Bundesministerien gipfelte daher indem bescheidenen Vorsatz, sich vermehrt der extremistischen Internet-Seiten anzunehmen – wohl wissend, dasshier die Möglichkeiten der deutschen Behörden begrenzt sind, weil die Vertreiber der Seiten zumeist im Auslandresidieren.

Resolutes Eingreifen der Behörden
Natürlich nutzen alle politischen Lager das Thema Rechtsextremismus zur Profilierung in der nachrichtenarmenSommerzeit. Anderseits gehört im – westlichen – Deutschland das als Antwort auf den Nationalsozialismusentwickelte und in der Auseinandersetzung mit dem Linksextremismus vervollkommnete Modell der «wehrhaftenDemokratie» zur festen geistigen Tradition. Extreme und als verfassungsfeindlich eingestufte Überzeugungenführen sehr schnell zu Abwehrreaktionen. Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich die Aufmerksamkeit derGesellschaft, aber auch von Behörden wie dem Verfassungsschutz, vor allem dem rechten Spektrum zugewandt.

Entgegen der in der Bundesrepublik verbreiteten Auffassung, wonach rechtsextreme Delikte in Deutschland nur laxverfolgt werden, geht man dagegen entschlossen vor. In den neuen Ländern, wo die Justiz anfänglich eine gewisseLaxheit an den Tag legte, ist ein Bewusstseinswandel zu beobachten. Straftaten werden konsequent verfolgt,Veranstaltungen wie Skinhead-Konzerte verboten. Kritisieren lässt sich allenfalls, dass zwischen Tat undVerurteilung gelegentlich zu viel Zeit vergeht. Auch Politik und Medien reagieren äusserst sensibel aufentsprechende Vorkommnisse. Noch zieht sich allerdings ein Graben durch Deutschland. Während im Ostenentsprechende Taten lange Zeit verdrängt oder relativiert wurden, führten im Westen spektakuläre Ausschreitungenoder Attentate in den jeweiligen Städten meist zu einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung. Kehrseite dieserBetroffenheit ist ein von Hysterie nicht freier, schnell verpuffender Aktionismus.

Mit dem Linksterrorismus vergleichbar?
In der gegenwärtigen Debatte werden Dinge angeprangert, die zwar alle unter den Oberbegriff desRechtsextremismus fallen, in der Praxis aber wenig miteinander zu tun haben. Sollte das Düsseldorfer Attentat, beidem in der letzten Wochen mehrere Immigranten aus der früheren Sowjetunion verletzt wurden, tatsächlich einpolitisches Delikt sein, wäre dies eine vorausgeplante Tat eines Einzelnen oder einer Gruppe mit terroristischenZügen. Der organisierte gewaltbereite Rechtsextremismus ist trotz Wachstum in den neunziger Jahren nach Angabendes Verfassungsschutzes jedoch noch immer ein begrenztes Phänomen und kann bezüglich Organisationsgrad,Ressourcen und krimineller Energie nicht mit dem Linksterrorismus der siebziger und achtziger Jahre verglichenwerden. Laut dem Inlandgeheimdienst scheuen die rechten Kreise zudem vor Terrorakten zurück, weil sie keineverschärfte polizeiliche Repression provozieren wollen. Der Verfassungsschutzbericht konstatiert für das letzte Jahrerstmals eine rückläufige Anzahl von Personen in der rechtsextremistischen Szene, einem heterogenen Konglomerataus Skinheads, neonazistischen Zirkeln und Parteien wie der DVU, den Republikanern und der NPD. ObwohlKommunikationswege wie das Internet an Bedeutung gewinnen, ist die Szene nur lose vernetzt und zuübergreifenden Bündnissen kaum in der Lage.

Mehr Sorgen müssen den Strafverfolgungsbehörden und der Politik hingegen die nicht organisierten, spontanenAusschreitungen jugendlicher Täter bereiten. Vor allem in Ostdeutschland kommt es regelmässig zu Pöbeleien undAngriffen auf Ausländer, als Linke geltende Personen und soziale Aussenseiter. So wurde kürzlich in Ahlbeck einObdachloser von einer Gruppe Jugendlicher zu Tode gequält. Die oftmals erst dreizehn oder fünfzehn Jahre altenTäter haben in der Regel keine kohärente Ideologie oder engere Verbindungen zu rechtsradikalen Gruppen. Aber siesind anders als der organisierte Neonazismus ein Massenphänomen. Zwanzig bis dreissig Prozent der ostdeutschenJugendlichen glauben laut Studien, dass Ausländer und Aussenseiter minderwertig seien.

Kinder als Täter
Diese Jugendlichen können auf die Gleichgültigkeit oder gar Billigung durch Lehrer und eine Elterngenerationrechnen, deren Wertesystem mit der DDR untergegangen ist und die daher kaum in der Lage sind, Orientierung undErziehung zu vermitteln. Die totalitäre kommunistische Ideologie befürwortete die Anwendung auch physischenZwangs auf Personen, die nach herrschender Auffassung ausserhalb der sozialistischen Volksgemeinschaftstanden. Diese latente Gewaltbereitschaft hat sich offenkundig selbst auf Kinder übertragen, die zu jung sind, umeigene Erinnerungen an die DDR zu haben. Hinzu kommen bei Erwachsenen wie Jugendlichen wirtschaftlicheSorgen und ein dumpfes Gefühl, als Ostdeutsche nur Bürger zweiter Klasse zu sein. Gegen dieses Gebräu hilftnicht allein staatliche Repression, wenngleich etwa in Brandenburg ein härteres Auftreten von Polizei undStaatsanwaltschaften die Zahl der Delikte sinken liess. Der immer wieder geforderten maximalen Härte bei derBestrafung setzt allerdings der Umstand eine Grenze, dass angesichts des Alters der Täter meist dasJugendstrafrecht angewendet wird. Die Möglichkeiten der Politik beschränken sich zunächst auf Appelle. So hoffenalle auf die möglichst rasche Ausbildung einer Zivilgesellschaft und eines Extremismus und Gewalt ablehnendenKonsenses, wie er in Westdeutschland existiert. Notwendig sind hierfür kontinuierliche Aufklärung und politischeBildung, wobei vielerorts die finanziellen Mittel fehlen.

Fortschritte mit Einschränkungen
Der Aufbau der viel beschworenen Bürgergesellschaft hat im Osten indessen Fortschritte gemacht. Ein Indiz hierfürist die wachsende Zahl von Kommunalpolitikern, die die Gewaltexzesse nicht mehr beschönigen. Wenn allerdingsin Potsdam ein Tramchauffeur, der durch beherztes Eingreifen einen Übergriff verhinderte, aus Angst vorRacheakten lieber anonym bleibt, zeigt dies, dass offenkundig noch ein anderes gesellschaftliches Klimavorherrscht.