Gipfeli und Skinheads

St. GallerTagblatt

Rechenschaftsbericht 2006 des Thurgauer Obergerichtes ? Weniger erledigte Verfahren an den Bezirksgerichten

Frauenfeld. Ob Nachbarschaftsstreitigkeiten, Konkurse, Tötungs- oder Verkehrsdelikte, das Thurgauer Obergericht kann sich über Arbeit nicht beklagen. Laut Rechenschaftsbericht konnte die Mehrzahl der Verfahren erledigt werden.

Stefan Borkert

Im vergangenen Jahr gab es ein Novum am Thurgauer Obergericht. Erstmals musste eine Verhandlung wegen des grossen Medieninteresses nach auswärts verlegt werden. Es handelte sich um das Verfahren, das als Skinhead-Prozess schweizweit Schlagzeilen machte. Eine Gruppe rechtsextrem gesinnter Schläger hatte in Frauenfeld zwei Jugendliche zusammengeschlagen und getreten. Ein Opfer wurde sehr schwer verletzt und schwebte in Lebensgefahr. Das Obergericht verlegte die Verhandlung nach Felben. Dazu musste es zahlreiche Anordnungen treffen, so Obergerichtspräsident Thomas Zweidler.

Neben den äusseren Umständen kam bei diesem Berufungsverfahren noch hinzu, dass das Obergericht das Urteil der Vorinstanz nach oben korrigierte. Ausführlich wird im Rechenschaftsbericht noch einmal erläutert, warum bei den Angeklagten eventualvorsätzliche Tötung vorlag. Das Urteil des Obergerichtes hatte denn auch vor dem Bundesgericht Bestand.

Gerichtsalltag

Neben solch spektakulären Fällen musste sich das Gericht aber auch mit grossen und kleinen Delikten auseinandersetzen, die den Gerichtsalltag ausmachen. Ein Koch hatte Forderungen wegen Überstunden geltend gemacht. Vor dem Bezirksgericht war er abgeblitzt. Das Obergericht gab ihm recht. Ein Bezirksamt hatte den Besitzer eines Klappmessers mit 100 Franken gebüsst, weil dieser das Messer im Auto mit sich führte. Das Obergericht entschied, dass der Mann gegen das Waffengesetz verstossen hat. Auch der sogenannte Gipfeli-Prozess ist aufgeführt. Die Stadt Kreuzlingen scheiterte mit ihrem Ansinnen einen stadtbekannten Bäcker zu büssen, weil er schon frühmorgens Gipfeli an seinem Backstubenfenster verkaufte.

6780 Verfahren

Insgesamt gingen 439 Fälle (Berufungen, Rekurse und Beschwerden) beim Obergericht ein. 430 Fälle konnten erledigt werden. Von sieben Aufsichtsbeschwerden gegen Bezirksgerichte, fand eine Gehör. Das Obergericht beanstandete, dass ein Urteil früher hätte zugestellt werden können. Die Bezirksgerichte erledigten 2006 insgesamt 6780 Verfahren. Im Jahr 2005 waren es noch 7185 Verfahren gewesen.

Befragt

Wie ist für Sie das Jahr 2006 im Vergleich zu den Vorjahren verlaufen?

Das Jahr war besonders geprägt von den Rechtsetzungsvorhaben des Obergerichts, einerseits durch den Erlass der Informationsverordnung und andererseits durch die Teilrevision des Anwaltstarifs.

Welches war der spannendste/schwerste Fall, den das Obergericht zu beurteilen hatte?

Spannend ist kaum ein Begriff, den die Justiz verwendet. Es gibt verschiedene Gründe, warum ein Verfahren einen besonders beschäftigt; deshalb kann ich die Frage so nicht beantworten. Geht man nur nach den äusseren Umständen, war es wohl jener Strafprozess, an welchem ein besonderes Interesse der Öffentlichkeit bestand: Dort wurde die Berufungsverhandlung aus Platzgründen ausserhalb des Obergerichtsgebäudes durchgeführt, und die Prozessleitung hatte einlässliche Anordnungen über Umfeld und Ablauf der Verhandlung zu treffen.

Das Obergericht war einmal wegen langer Bearbeitungszeiten in der Kritik. Haben sich diese verkürzt?

Die Justizkommission des Grossen Rates hielt im Parlament im Herbst 2003 fest, es sei eine beträchtliche Verkürzung der Verfahrensdauern festzustellen, was die Justizkommission mit Anerkennung entgegennehme. Seither konnte das Obergericht die Ergebnisse im Wesentlichen noch verbessern. Es wäre aber falsch, die Justiz nur gerade an der Dauer von Verfahren zu messen.

Spüren Sie erste Auswirkungen des neuen Strafrechts?

Alle Urteile, die das Obergericht seit dem 1. Januar dieses Jahres ausfällt, richten sich im Wesentlichen nach dem revidierten Strafgesetzbuch.