Zwischen Pulverfass und Panikmache

BernerZeitung

Im Thuner Selveareal gehören Schlägereien und Gewalttaten zur Tagesordnung – wenigstens an Wochenenden. In der Bevölkerung befürchtet man eine Eskalation – die Polizei warnt vor Panikmache.

Bruno Stüdle

«Die Gefahr der Eskalation und das Gewaltpotenzial machen mir Angst. Ich vertraue darauf, dass Sie Ihre Verantwortung wahrnehmen», schreibt ein besorgter Berufsschullehrer aus Heimberg in einem offenen Brief an verschiedene lokale Behördenmitglieder und auch an das «Thuner Tagblatt». Er reagiert damit auf den TT-Bericht, der am 22. Dezember 2001 unter dem Titel «Mehr Gewalt im Selveareal?» erschienen ist und der sich auf zwei Vorfälle anfangs Dezember bezogen hatte. Thuns Polizeichef Erwin Rohrbach äusserte sich damals so: er glaube nicht, dass sich die Gewaltsituation in der Selve verschlimmert habe. «Was ich damals meinte ist, dass die Gewalt in der Selve nicht plötzlich anfangs Dezember 2001 zum Thema geworden ist. Schlägereien gab es dort seit den Anfängen des Vergnügungsviertels», relativiert Rohrbach seine damalige Aussage. «Natürlich wissen wir, dass dort Schlägereien praktisch zur Tagesordnung gehören und sich in letzter Zeit gehäuft haben. Wir nehmen die Gewalttaten ernst und markieren deshalb auch verstärkte Präsenz im Selveareal.» Allerdings müsse man aufpassen, dass man nicht unnötig Angst schüre, mahnt Rohrbach. «Überall, wo sich so viele Menschen zum Vergnügen und zur Unterhaltung treffen, gibt es als negative Begleiterscheinung Gewalttaten. Will man sie aus der Welt schaffen, muss man die Selve schliessen – aber auch das Thunfest verbieten.»

2000/01 mehr Einsätze

Ob Panikmache oder nicht, die Statistik über die Zahl der Schlägereien in der Selve, mit denen sich die Polizei zu befassen hatte, spricht eine klare Sprache. Wurden 1997 noch 15 Fälle registriert, steigerte sich die Zahl 1998 auf 24, 1999 auf 27 und im Jahr 2000 auf 40 Schlägereien. Im vergangenen Jahr ging sie indes auf 37 zurück. Veröffentlicht werden laut Ursula Stauffer, Pressesprecherin bei der Kantonspolizei Bern, übrigens nur die schweren Fälle. Von den meisten Schlägereien erfährt die Öffentlichkeit also gar nichts.

«Skins gegen Russen»

So wurden zum Beispiel der Fall vom 2. Dezember mit Peter Friedli (Bericht unten) und zwei Schlägereien in der Nacht auf den 30. Dezember nicht veröffentlicht. Laut Aussage eines beteiligten Skinheads – er bezeichnet sich selber so und meldete sich auf der TT-Redaktion – hätten er und seine Weggefährten am Samstag, 29. Dezember, um 22 Uhr im Selveareal «zwei von der Russenmafia verprügelt». Am frühen Morgen hätten sich die «Russen» dann mit einer Verstärkung von 20 bis 30 Mann an acht Skins gerächt. Vier Skins mussten sich darauf mit unter anderem «Schnittwunden, Nierenblutungen und erheblichen Kopfverletzungen» im Spital verarzten lassen. Die Polizei bestätigte die Fälle auf Anfrage.

Wie hohe Dunkelziffer?

Bei den obgenannten Statistikzahlen handelt es sich nur um Schlägereien, welche der Polizei gemeldet werden. Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher liegen als die zirka 40 registrierten Fälle pro Jahr. «Schlägereien gehören in der Selve zur Tagesordnung – wenigstens an den Wochenenden», diesen Satz bekommt man immer wieder zu hören, wenn man sich über das Geschehen in Thuns Vergnügungsmeile informiert. Polizeichef Erwin Rohrbach verwendete ihn ebenso wie der obgenannte Skin oder der erwähnte Berufsschullehrer. Auch Taxifahrer, regelmässige Selvebesucher, deren Eltern und der Dance-Paradise-Pächter Friday Anthony zitierten den Satz.

Woher rührt die Gewalt?

Der eingangs erwähnte Lehrer zitiert in seinem Brief vier ehemalige Schüler, mit denen er den Zeitungsbericht diskutiert hatte: «Wenn diese Leute aus dem Balkan mir, meiner Freundin oder meinen Freunden etwas antun, dann hole ich eine Waffe und räche mich. Ich ertrage das nicht mehr: dieses Wehrlos-Sein, dieses Ohnmächtig-Sein und dieses hilflose Ausgeliefert-Sein gegenüber dem Terror der Leute aus dem Balkan.» Ins gleiche Horn stossen auch die anderen befragten Personen – die, wie auch der Lehrer, aus Angst vor Repressalien nicht mit Namen genannt werden wollen. Egal wen man fragt, ob Taxifahrer, Lokalbesitzer, Selvebesucher oder deren besorgte Eltern – wenn sie über ihre Ängste und die Gewalttaten im Selveareal sprechen prägen Wörter wie «Russenmafia», «Albaner» oder «Leute aus dem Balkan» ihre Aussagen.

Wachsender Rassismus?

«Menschen aus dem Balkangebiet», diese Überschrift trägt auch eine Anfrage, welche die SVP-Fraktion des Thuner Stadtrates am 14. Dezember 2001 eingereicht hat. Die Fraktion hält darin unter anderem fest: Eine Anhäufung gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Menschen aus dem Balkangebiet und SchweizerInnen ist in Thun feststellbar. In der Bevölkerung herrscht Besorgnis und Verunsicherung. Eine Reaktion der Behörden scheint uns sinnvoll, auch können so unkontrollierte Reaktionen von betroffenen BürgerInnen verhindert werden.» Und die SVP wirft die Frage auf: «Ist dem Gemeinderat der wachsende Balkan-Rassismus in Thun bewusst?» Dass die Gewalttaten im Selveareal zwar oft auf Ausländer zurückzuführen sind, bestätigt die Polizei. Sich auf die Statistik berufend hält Erwin Rohrbach aber fest: «Der Anteil der an Schlägereien und Gewalttaten im Selveareal beteiligten Schweizer ist gestiegen und klar höher als jener der Ausländer.» Und von einer Russenmafia oder einer Albaner-Connection weiss Rohrbach nichts.