«Wir haben Gott sei dank keinen eigentlichen Führer»

BernerZeitung

Im Kanton Bern leben rund 180 Rechtsextremisten. Gemäss Jean-Pierre Eicher, Staatsschutzexperte bei der Kantonspolizei, ist die Szene dieses Jahr nicht gewachsen, aber aktiver geworden.

Interview: Georg Humbel

Herr Eicher, 1998 zählte die Polizei im Kanton Bern 80 Rechtsextremisten. 1999 waren es 120 und letztes Jahr 180 Personen. Warum steigen diese Zahlen so stark an?

Jean-Pierre Eicher: Erstens hat die Kantonspolizei ab 1998 mehr Personen- und Fahrzeugkontrollen im rechtsextremen Milieu durchgeführt. Zweitens ist die Szene tatsächlich gewachsen, und es wurden mehr Straftaten verübt. Dieses Jahr gehen wir weiterhin von rund 180 Rechtsextremen im Kanton aus.

Hat der Kanton Bern damit überdurchschnittlich viele «Glatzköpfe»?

Die Bundespolizei geht schweizweit von rund 900 Aktivisten aus. Wenn wir im Kanton Bern 180 Personen zählen, haben wir doch einen grossen An- teil der polizeilich erfassten Skinheads.

Wie aktiv waren die Rechtsextremen im Jahr 2001?

Wir haben dieses Jahr mehr, aber kleinere Treffen von Skinheads registriert. Auf der anderen Seite nehmen Rechtsextreme aus dem Kanton Bern auch an Treffen in anderen Kantonen teil.

Die Szene ist also über die Kantonsgrenzen hinaus vernetzt?

Die Szene ist sehr mobil. Einmal ist man an einem Treffen in der Innerschweiz, einmal in der Ostschweiz oder sogar im Ausland. Wir stellen aber gleichzeitig fest, dass die Szene grösstenteils strukturlos ist. Es entstehen kleine Gruppen, die sich rasch auch wieder auflösen.

Rechtsextreme im Kanton Bern sind also nicht einheitlich organisiert?

Nein. Kleine Gruppen haben verschiedentlich versucht, die lose Szene zu vereinnahmen, eine Art Sammelbewegung zu gründen. Aber das ist diesen Gruppen bis heute nicht gelungen. Es gibt zwar regionale oder lokale Leader, wir haben aber bis heute Gott sei Dank keine eigentliche Führerperson …

Sind die Rechtsextremen unverschämter geworden?

Die Skinheads treten phasenweise offen und unverschämt auf. Das hat man letztes Jahr auf dem Rütli gesehen. Solche Auftritte sind aber eher selten. Grundsätzlich stellen wir fest, dass sich diese Szene eher im Versteckten trifft. Zum Beispiel in Waldhäusern oder Schützenhütten. Rechtsextreme scheuen die Konfrontation mit den Medien, mit der Politik. Sie schotten sich gegen aussen ab.

Der Polizei wurde auch schon vorgeworfen, nicht entschieden gegen Skinheads vorzugehen. Sieht die Polizei auf dem rechten Auge schlecht?

Diesen Vorwurf weise ich entschieden zurück. Als Polizei sind wir von zwei Seiten unter Druck: Von Links kommen Vorwürfe, wir täten zu wenig. Von Rechts heisst es, wir seien gegen Linke untätig und würden gegen Rechtsextreme entschieden durchgreifen. Wir sind aufgefordert, unsere Aufgabe wahrzunehmen, gleichgültig ob die Gewalt von Links oder Rechts kommt. Gewalt bleibt Gewalt.

Letztlich ist Rechtsextremismus aber ein Phänomen, das nicht mit polizeilichen Massnahmen bekämpft werden kann?

Das ist so. Polizeiliche Massnahmen zeigen nur begrenzt Wirkung. Ermittlungserfolge lassen jedoch hoffen, dass die Spitze der gewalttätigen Exponenten gebrochen werden kann. Im Januar 2001 hat die Gewalt von Rechts mit der Ermordung von Marcel von Allmen in Interlaken einen tragischen Höhepunkt erreicht …Der Fall ist in seiner Dimension bis jetzt einzigartig. Was für mich im Zusammenhang mit dem Fall Von Allmen vor allem bedenklich ist, ist, dass diese Jugendlichen aus «normalen» gesellschaftlichen Verhältnissen kommen. Und niemand bemerkte etwas …

Hat man nichts bemerken wollen?

Das würde ich so nicht sagen. Mich stimmt einfach nachdenklich, dass sich so etwas über längere Zeit entwickeln kann, ohne dass jemand etwas bemerkt.