Unbeirrt unsensibel

Tagesanzeiger

Die kurzlebige Resonanz auf den Antisemitismus-Bericht bestätigt dessen Inhalt: Antisemitismus, obwohl weit verbreitet, ist für viele ein Nicht-Problem.

Autor: Von Michael Meier, Hölstein

Drei Monate ist es her, seit die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (ERK) ihren ersten Bericht zum „Antisemitismus in der Schweiz“ vorgelegt hat. Der Judaist Ernst Ludwig Ehrlich hält ihn für „den umfassendsten Bericht zum Thema, den wir heute haben“. Er sei keine der vielen theoretischen Abhandlungen, sondern ein Dokument, „mit dem man konkret arbeiten kann“, so Ehrlich an einer Tagung der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz. Sie wollte mit der Veranstaltung auf dem Leuenberg die Debatte über den Bericht eröffnen, der insbesondere den Antisemitismus ins Visier nimmt, der in jüngster Zeit wieder aufgeblüht ist.

Gerade hat die EKR beschlossen, landesweit alle wichtigen Organisationen um eine explizite Stellungnahme zum Bericht anzugehen. Gemäss EKR-Präsident Georg Kreis war das Presseecho „gut, aber kurz“, die Reaktion der grossen Parteien „unverbindlich“ und jene der Landesregierung, erste Adressatin des Berichts, „eigentlich nicht gut“. Der Historiker von der Universität Basel zeigte sich enttäuscht über die ziemlich nichtssagende bundesrätliche Erklärung.

Umgekehrt würdigte er die anerkennenden Worte von Innenministerin Ruth Dreifuss, die dafür prompt attackiert wurde. Ein Internettäter habe gar die Aussage von Tierschützer Ewin Kessler überboten, Dreifuss sei eine „Landesverräterin“: Die Bundesrätin sei trotz Schweizer Pass gar keine Schweizerin, so der Schreiberling. Als Jüdin sei sie vielmehr Angehörige einer fremden Nation und eine „feindliche Agentin, die den Auftrag hat, bei der Zerstörung der Schweiz mitzuwirken“.

Wer sich für Juden einsetze, werde von den rassistischen Fundamentalisten zwangsläufig für einen Juden gehalten, sagte Kreis, der gerade in einem Fax als „Israeli mit Schweizer Pass“ tituliert wurde. Den Kampf gegen antisemitische Dogmatiker mit anti-antisemitischer Aufklärung hält er für verlorene Zeit. Durch Aufklärung liessen sich diese lediglich provozieren, was die Reaktionen auf den Bericht bestätigten.

Wohlmeinend

Erfreut zeigte sich Kreis über das Einverständnis der meisten Medienschaffenden: „Unsere Kommission hat in ihnen so etwas wie objektive Verbündete.“ Missverständnis ortete er im breiten Mittelfeld der Indifferenten und Wohlmeinenden. Letztere transportieren sehr wohl Antisemitismen und „meinen zugleich, von Antisemitismus frei zu sein“. Sie zählen etwa Juden zu ihren besten Freunden, rechnen sie aber nicht zur eigenen Bevölkerung und weisen ihnen die Schuld am Antisemitismus zu. Ein Arzt nach Erscheinen des Rassismusberichts: „Wenn sich der Antisemitismus in den letzten zwei Jahren verstärkt hat, dann sind wir Schweizer dafür kaum verantwortlich zu machen.“ Die Indifferenten machen laut Kreis aus dem Problem ein Nicht-Problem: Anders als den Migrationsantisemitismus, der sich öffentlich, teils in Verbindung mit Gewaltanwendung äussere, nähmen sie den gegen Juden praktizierten Rassismus nicht wahr.

Der aktuelle Antisemitismus manifestiert sich offen oder kaschiert. Zwar sei die Zahl der öffentlich auftretenden Schweizer Holocaust-Leugner klein, sagte der Luzerner Journalist Hans Stutz. Zugenommen habe dagegen ihre Ausstrahlung, namentlich auf Skinheads. Auch in der esoterischen Subkultur seien antisemitische Weltverschwörungstheorien sehr beliebt.

Rechtsbürgerliche Exponenten indessen verbreiten gemäss Stutz Antisemitismus nicht direkt und grobschlächtig, sondern durch Anspielungen. Der Journalist zitierte eine neue Stellungnahme der Katholischen Volkspartei, in der sie die Banken-Globallösung als „Schlag der antichristlichen Kräfte gegen das christlich-abendländische Staatsverständnis“ kritisiert. Gemäss KVP haben in unserer

Welt „ausländische internationalistische“ oder auch „gottlose Kreise“ das Sagen.