Samstagsinterview

Der Bund, 19. Juli 1997

Georg Kreis

bur. Georg Kreis ist Ordinarius für neuere allgemeine Geschichte und Schweizer Geschichte an der Universität Basel und gleichzeitig Leiter des dortigenEuropa-Instituts. Zu seinen Spezialgebieten gehören nebst Schweizer Geschichte die Themen internationale Beziehungen, Nationalismus undMinderheiten. Im August 1995 wurde Kreis zum Präsidenten der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus ernannt. Weiter gehört der 54jährigeHistoriker auch der Bergier-Kommission an. Kreis ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Söhne und wohnt in Basel. «Rassismus existiert in uns allen»

Georg Kreis / Vor kurzem hat die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) eine Kampagne gegen Rassismus und Antisemitismus gestartet.Die Schweiz sei nicht rassistischer als andere Länder, erklärt EKR-Präsident Georg Kreis im Interview mit dem «Bund». Allerdings habe der latenteAntisemitismus nach den Diskussionen um Nazi-Raubgold zugenommen.

Autor: Interview: Rudolf Burger

«Bund»: Herr Kreis, wie rassistisch ist die Schweiz?
Georg Kreis: Nicht mehr oder weniger rassistisch als unsere Nachbargesellschaften.

Nicht rassistischer als beispielsweise – Deutschland?
Nein, aber auch nicht rassistischer als Frankreich und Italien. Wir sollten nicht immer nur wegen seiner Vergangenheit an Deutschland denken. Rassismusgibt es auch im «nonchalanten» Frankreich und im «heiteren» und «lebenslustigen» Italien.

Wo in der Schweiz gibt es Rassismus – überall?
Rassismus existiert in uns allen als latente Möglichkeit, er existiert aber auch als Reaktion, als Äusserung im Alltag.

«Schöner Schein» ist der Titel Ihrer Antirassismus-Kampagne. Heisst das: An der Oberfläche ist alles in Ordnung, aber darunter verbirgt sich ein Abgrundvon Rassismus?
Die Kommission will in der Tat auf diese Doppelbödigkeit hinweisen. Aber wir wollen damit nicht sagen, dass es quasi ein bodenloses Mass anRassismus gibt.

«Rassismus gibt es auch im nonchalanten‘ Frankreich und im heiteren‘ Italien.»
Der Tatsache, dass man den schönen Schein wahren will, kann man – wenn es nicht pure Scheinheiligkeit ist – durchaus auch positive Aspekteabgewinnen.

Was rassistisch ist und was nicht, ist unklar. Ist beispielsweise ein Rassist, wer sagt, es gebe zu viele Ausländer in der Schweiz?
Nein. Eine solche Person ist vielleicht fremdenfeindlich. Solange mit einer solchen Meinung nicht auch die Aussage verbunden ist, eine bestimmte Gruppevon Ausländern – eine Ethnie – habe biologisch definierte negative Eigenschaften, kann man aber nicht von Rassismus sprechen.

Was ist denn der Unterschied zwischen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus?
Rassismus geht davon aus, dass es unveränderbare biologisch zugeschriebene Eigenschaften gibt und dass sich diese Eigenschaften im Schlechten vonjenen der eigenen Person unterscheiden.

Ein weiteres Beispiel: Ist ein Rassist, wer sagt, die Ausländerkriminalität in der Schweiz sei ein grosses Problem?
Auch er ist kein Rassist. Solche Behauptungen können aber ein Vorfeld für rassistische Meinungen sein. Etwa dann, wenn davon ausgangen wird, mitbestimmten Menschen seien gewisse kriminelle Eigenschaften verbunden. Diese Frage gibt mir auch Gelegenheit zu sagen, dass Ausländerkriminalitätnicht grösser ist als Inländerkriminalität, wenn die gleichen Bevölkerungsgruppen miteinander verglichen werden.

Wo liegt denn die Erklärung dafür, dass der Ausländeranteil in Schweizer Gefängnissen rund 50 Prozent ausmacht?
Da ist zum einen zu unterscheiden zwischen den Transitkriminellen und den straffälligen Ausländern mit Niederlassungsbewilligung. Zum andern: Esdürfen keine verallgemeinernden Urteile aufgrund weniger Extremfälle gemacht werden, die es überall gibt. Man verallgemeinert übrigens meistens nur dienegativen und nicht die positiven Erfahrungen: Wenn zum Beispiel ein Ausländer bei einem Verkehrsunfall Hilfe leistet, wird man es nicht erleben, dassdies als allgmeine Eigenschaft den Ausländern zugeschrieben wird. Das wäre auch falsch, genauso, wie es im negativen Sinn falsch ist.

Ist jemand Rassist, der fordert, Asylverfahren schneller abzuwickeln?
Überhaupt nicht. Der hat recht und sagt etwas an die Adresse der eidgenössischen und kantonalen Verwaltung.

Schliesslich: Zeugt es von Rassismus, wenn sich Eltern darüber beklagen, ihre Kinder lernten in der Schule zuwenig, weil es zu viele Ausländer in derKlasse habe?
Nein, das ist Ausdruck einer berechtigten Sorge. Man sollte dabei aber auch nicht übersehen, dass es im schwierigen Zusammenleben in der Schule wegeneines grossen Ausländeranteils auch positive Momente in Form bereichernder Erfahrungen gibt, auch wenn daraus insgesamt ein Minus resultieren mag.Man sollte im übrigen die Schulen nicht in dem Mass mit dem Migrationsproblem alleine lassen, wie das heutzutage geschieht.

Ist der Antisemitismus in der Schweiz im Zusammenhang mit der Diskussion um Nazi-Raubgold gestiegen?
Das ist sicher so, davon zeugen schon nur die Leserbriefspalten unserer Zeitungen. Der latente Antisemitismus, den es schon immer gegeben hat, hat eineArt Deblockierung erfahren und scheint wieder salonfähig.

Ist denn schon antisemitisch, wer Edgar Bronfman, den Präsidenten des World Jewish Congress, oder auch dessen Generalsekretär Israel Singerkritisiert?
Eines möchte ich vorauschicken: Man soll die Grenzen dessen, was man sagen darf, nicht enger ziehen, als sie sind, und nachher jenen, welche dieGrenzen gar nicht so eng haben wollen, den Vorwurf machen, sie definierten sie zu eng. Die Herren Bronfman und Singer darf man durchaus kritisieren,allerdings nicht mit irgendwelchen antisemitischen Stereotypen.

Wo ziehen Sie diese Grenze – wo hört die freie Meinungsäusserung auf, wo beginnen Antisemitismus und Rassismus?
Die freie Meinungsäusserung ist seit langem eingeschränkt, wo individuelle Ehrbeleidigungen beginnen. Der Tatbestand der individuellen Ehrbeleidigungwird durch das Antirassismusgesetz ausweitet auf ethnische und religiöse Gruppen insgesamt. Dahinter steckt die Erfahrung, dass die Diffamierung einerganzen Gruppe zwangsläufig wieder auf ihre einzelnen Mitglieder zurückfällt.

Stichwort Antirassismusgesetz: Sind sie mit der Praxis, wie dieses Gesetz bisher ausgelegt wurde, zufrieden?
Alles in allem ja. Mit dem Gesetz hat der Kampf gegen den Rassismus die Sphäre der Unverbindlichkeit verlassen; es ist richtig, wenn die Diskussionenüber das Erlaubte und Unerlaubte einen höheren Verbindlichkeitsgrad erreicht haben.

Ist es auch richtig, wenn heute Politiker wegen Aussagen, die sie in der «Arena» machen, mit einer Klage rechnen müssen?
Richtig ist, dass zumindest abgeklärt wird, ob in einem bestimmten Fall ein Strafbestand vorliegt. Gerade Politiker einer gewissen Couleur neigen dazu,sich durch die Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas Zustimmung zu erwerben. Das über die Massenmedien zu tun, ist fatal, und es wäre falsch, sie von der Strafbarkeit auszunehmen. Mit parlamentarischer Immunität hatdas nichts zu tun, die sollte für die Ausübung des Mandats im engeren Sinne reserviert bleiben.

Bei der Gründung der Kommission gegen Rassismus war die Rede davon, dass Rassismus gerade bei Jugendlichen stark verbreitet sei. Stimmt daswirklich?
Diese Erfahrung habe ich jedenfalls gemacht. Sie kontrastiert im übrigen mit der Klischee-Vorstellung, ältere Menschen seien konservativ-nationalistisch,junge aber liberal-internationalistisch. Gerade unter Jungen gibt es harte Auseinandersetzungen, die mit dem Mittel des Rassismus geführt werden.

Dennoch: Die Auftritte neonazistischer Gruppen und Skinheads sind relativ selten.
Das ist schön. Aber die Tatsache, dass etwas selten vorkommt, ist kein Argument gegen ein Gesetz. Eine generelle Regelung hat auch eine präventive, einevorbeugende Wirkung. Ich bin überzeugt, dass uns in den letzten zwei Jahren dank dem Antirassismusgesetz einiges erspart geblieben ist. Natürlich gibtes Unbelehrbare, die sich auch von Gesetzen nicht beeindrucken lassen.

Das grösste Echo hatte Ihre Kommission, als sie den Bundesrat wegen seines 3-Kreise-Modells kritisierte, das Einwanderung aus der Dritten Welt und ausEx-Jugoslawien ausschliesst. War diese Kritik falsch?
In der Sache war das kein Fehler. Wir hätten vielleicht noch etwas klarer sagen können, was nicht gemeint war: Wir haben zum Beispiel nicht gemeint,dass der Bundesrat rassistisch sei und deswegen angeklagt werden müsse. Wir haben nur gesagt, dass das Konzept des 3-Kreise-Modells rassistischeStrukturen aufweise. Bei dieser Aussage bleiben wir.

Hat ein Staat nicht das Recht zu sagen, woher die Zuwanderung kommen soll?
Natürlich darf und muss er das tun. Unsere Kommission hat nichts dagegen, wenn gesagt wird, wir bevorzugen westeuropäische Ausländer, weil wir mitihnen eine engere politische und wirtschaftliche Gemeinschaft bilden wollen. Wenn aber andere Ausländer mit dem Argument zurückgestellt werden, siewiesen angeblich eine schlechtere Qualität auf, dann ist das rassistisch. Das disqualifiziert auch eine halbe Million Menschen in der Schweiz, die mitgleicher Herkunft eine feste Niederlassung haben.

Sie reden von den Ex-Jugoslawen?
So ist es. Im übrigen ist eines klar: Das 3-Kreise-Modell ist still dabei, abgeschafft zu werden.

Wäre es richtiger gewesen, wenn der Bundesrat gesagt hätte, wir bevorzugen besser ausgebildete Ausländer? Das wären vermutlich auch Westeuropäer.
Auch das wäre falsch. Die Annahme, dass in gewissen Ländern eine bessere Ausbildung automatisch gegeben ist, stimmt nicht. Denken sie nur an denasiatischen Raum.

Und wenn der Bundesrat seine Auswahlkriterien damit begründet hätte, dass es zwischen unserer Kultur und jener der Einwanderer möglichst keineUnterschiede geben sollte?
Das wäre erstens rein sachlich falsch gewesen, weil interkulturelle Begegnungen in gewissem Ausmass höchst produktiv sein können. Zweitens möchteich es nicht spröden Bürokraten überlassen, kulturelle Verträglichkeiten zu definieren.

Es wäre ja wahrscheinlich der christlich-abendländische Kulturkreis, der bevorzugt würde.
Das schiene mir falsch.

Aber wäre es auch rassistisch?
Gemäss Strafgesetz Artikel 261 bis ist religiöse Diskriminierung unzulässig. Es ist auch sozialwissenschaftlich schlicht falsch, wenn zum Beispielbehauptet wird, Menschen islamischen Glaubens seien nicht integrierbar.

Sie geben mir ein weiteres Stichwort: Von Integration der Ausländer ist heute viel weniger die Rede als früher. Ist Integration nicht mehr nötig?
Ich finde es richtig, von Ausländern zu erwarten, Integrationsanstrengungen zu unternehmen. Allerdings habe ich auch das Gefühl, dass die Parolenangeblicher Nichtintegrationsfähigkeit geradezu eine Reaktion sind auf die hohe Integrationsfähigkeit von Ausländern: Weil man gar keine integriertenAusländer wünscht, erklärt man, sie seien grundsätzlich nicht integrierbar. Ein weiterer Punkt ist der: Man müsste auch von derEinwanderungsgesellschaft Integrationsleistungen erwarten können.

Sind wir denn überhaupt ein Einwanderungsland?
Faktisch sind wird das, schauen Sie nur die Zahlen an. Man müsste dem auch auf der politischen und sozialen Ebene Rechnung tragen, und zwar auch imeigenen Interesse.

Aus demographischen Gründen?
Nein. Ich denke dabei an die ausländische Wohnbevölkerung, die hier bleiben wird. Da sollten wir aus eigenem Interesse zum Beispiel mit Sprachkursendafür sorgen, dass sie auch wirklich integriert werden können. Es wäre im übrigen nützlich, zwischen Einwanderern und Gemeinden einen Einwanderungsvertrag abzuschliessen, der für beide Seiten Rechte und Pflichten definierte. Zu den Pflichten derEinwanderer gehörte es etwa, Sprachkurse zu besuchen und die Kinder kontinuierlich in der Schule zu lassen, statt sie nach Belieben in die Heimatzurückzubringen.

Das Stichwort Schule führt zur heiklen Frage, ob Muslime das Recht haben sollen, ihre Töchter mit Kopftüchern in die Schule zu schicken.
Unsere Kommission hat sich dazu noch nicht geäussert, und ich stelle fest, dass das im Moment noch kein Problem ist. Es gibt fundamentalistischeKreise, die das durchsetzen wollen, aber auch viele Muslime, die hoffen, dass der schweizerische Staat hier eine Grenze setzt. Ich stelle weiter fest, dassdie welschen, frankreichorientierten Schweizer in diesem Punkt ablehnender sind, Deutschschweizer eher toleranter.

Soll es, auch diese Frage gehört in diesen Zusammenhang, muslimischen Eltern erlaubt werden, ihre Töchter vom gemischten Turnunterricht zudispensieren?
Auch das ist eine schwierige Frage. Man sollte sich dabei aber daran erinnern, dass es bei solchen Fragen speziell in der katholischen Schweiz vor nichtallzulanger Zeit ähnlich konservative Auffassungen gab. Es sollte jetzt also nicht mit aufklärerischer Ungeduld daherkommen, wer bis vor kurzem ähnlicheMuster im Kopf hatte.

Also wären Sie dafür, wenn es denn in dieser Frage einmal Konflikte geben sollte, die Haltung der Eltern zu respektieren?
Natürlich bin ich auch der Meinung, dass sich in diesem faktisch multikulturellen Einwanderungsland gewisse Standards durchsetzen sollten. Dazugehören Trennung von Kirche und Staat, Respekt vor der individuellen Menschenwürde. Wir haben ein westliches Menschenrechtsverständnis, und ineinem gewissen Moment muss der Staat die Kinder auch vor ihren Eltern schützen. Aber das ist auch ein Inländerproblem, nicht nur einAusländerproblem.

Ihre Kampagne gegen Rassismus läuft nun seit einer Woche. Gibt es erste Reaktionen?
Die Kampagne kommt im allgemeinen gut an, aber es gibt natürlich unterschiedliche Reaktionen. Zustimmung kommt von Leuten, die nicht sensibilisiertwerden müssen, Proteste kommen von Leuten, die nicht zu sensibilisieren sind. Wir zielen auf das ganz grosse Mittelfeld, von dem wir bisher ausnaheliegenden Gründen kaum Reaktionen erhalten haben.

Hansueli Trachsel