Rassismus im Toggenburg

TagesAnzeiger

Monatelang ist eine Arztfamilie terrorisiert worden. Jetzt verlässt sie das Tal. Diebeliebteste Erklärung: ein tragischer Einzelfall. Tatsächlich?

Von Hannes Nussbaumer, Unterwasser

«Voll geil!» Zwei Wörter in grossen Lettern auf einer grossen Tafel. Zwei Wörterwider das Vergessen. Damit die Erinnerungen an die schönsten Tage der jüngerenGeschichte Unterwassers nicht so schnell verblassen: an die Tage von Simi Ammannsolympischem Doppelsieg.

Für die lokale Gegenwart gilt die gegenteilige Devise: möglichst rasch vergessen. Sohoffen jedenfalls die einheimischen Imagepfleger. Verständlich, wenn so kurz vorSaisonbeginn ihre Verheissungen zur Farce werden: «Wie Engel im Paradies» lebe manhier, verspricht das Plakat im Tourismusbüro Unterwasser.

«Wir machen euch das Leben zur Hölle», verspricht dagegen der Brief, der bei JörgMichel eingetroffen ist. Es ist einer von fünf Drohbriefen, die Arztfamilie erhaltenhat. Seit drei Jahren lebt Michel zusammen mit seiner afrikanischen Frau und den beidenKindern in Unterwasser. Zweieinhalb Jahre herrschte Ruhe. Dann traf der erste Drohbriefein. Aufgeschlitzte Reifen, gelöste Radmuttern und eine versprayte Hausfassade kamenhinzu. Letzte Woche teilte Michel der Gemeinde mit, er ziehe fort. Die Familie will sichin Südafrika eine neue Existenz aufbauen.

Omertà im Toggenburg?

Im Obertoggenburg herrscht Bestürzung: Am Samstag kamen über 500, am Montag 200Einheimische an eine Kundgebung. Vor allem aber fragt man sich im Tal: Wer ists? «Es istwie bei einem Puzzle», sagt der St. Galler Polizeisprecher Hans Eggenberger: «EinigeTeile haben wir, doch es gibt noch Lücken.» Fest steht für ihn: «Die Täterschaftstammt aus der Region. Sie kennt die Verhältnisse gut.»

700 Menschen leben in Unterwasser, rund 2700 im Obertoggenburg. Kaum zu glauben, dasshier einer unbemerkt wüten kann. Das glaubt auch Jörg Michel nicht: «Wer so aggressivschreibt, der redet auch so. Und das tut er nicht im Verborgenen. Es muss Leute geben,die diese Sprache kennen.» Auch Stephan Haller, Ex-Chefredaktor des «Toggenburgers»und heute Betreiber eines Medienbüros, meint: «Ich kann mir vorstellen, dass mehrerePersonen wissen, wer hier sein Unwesen treibt.»

Doch wenn dem so ist: Warum vermochte der Täter bis heute unerkannt zu bleiben? Herrschtim Toggenburg die Omertà, das Gesetz des Schweigens? Nein, sagt PolizeisprecherEggenberger, es gebe keine «Mauer des Schweigens». Das Problem sei vielmehr, dass es«nichts Hinterlistigeres gibt als eine Täterschaft, die anonym aus dem Hinterhaltagiert». Stephan Haller mutmasst, dass manche aus Angst schweigen würden. «Sie wissen:Der Täter wird früher oder später ins Tal zurückkehren. Und sie fragen sich: Waspassiert dann mit mir?»

Es gibt derzeit sehr viel mehr Fragen als Antworten am Fuss der Churfirsten. Und sehrviel mehr Mutmassungen als Gewissheiten. Die Folge: Misstrauen kommt auf. Wissen dieBerufs- und Vereinskollegen wirklich nichts, oder tun sie nur so? Ist es gar einer vonihnen? Oder ists der Nachbar? Sodann: Wütet der Täter einzig aus rassistischem Antrieb?Oder handelt es sich bei ihm, wie es auch Michel selbst nicht ausschliessen will, umeinen Patienten, der sich missverstanden fühlt? Fakt ist: Dorfarzt Michel ist zudemFacharzt für Psychiatrie und behandelt daher auch Patienten mit psychischen Krankheiten.

Der Sündenbock-Mechanismus

Sehr schnell und mit einem Ausrufe- statt einem Fragezeichen reagiert man im Tal dagegenauf den Verdacht, Rassismus sei im Toggenburg salonfähiger als anderswo. «Rassismus isthier nicht verbreiteter», betont Unterwassers Gemeindepräsident Alois Ebneter. Der FallMichel sei ein «tragischer Einzelfall».

Das sehen die beiden jungen Schwarzen entschieden anders. Sie leben in Wattwil, dort, wodie Hügel niedrig, die Ortschaften grösser und die Gedanken (ein bisschen) freier sind:Der Fall in Unterwasser? Es kommt wie aus der Pistole geschossen: «Überrascht unsüberhaupt nicht.» Dann erzählen sie: Kaum eine Postautofahrt, auf der sie nichtangepöbelt würden, vorzugsweise von älteren Passagieren. «Man sagt uns: ?Geht dochzurück nach Afrika. Wir kommen ja auch nicht zu euch.?» Im Bus herrsche darauf stetsStille. «Noch nie hat sich jemand für uns gewehrt.» Und übrigens: Es habe in derRegion immer mehr junge Männer mit schwarzen Baseballjacken und aufgenähten SchweizerKreuzen.

Peter Roth ist Musiker, war einst SP-Kantonsrat und lebt seit über dreissig Jahren imTal. Er sagt: «Ich finde es heuchlerisch, wenn man jetzt mit dem Finger aufs Toggenburgzeigt.» Rassismus sei in den letzten 15 Jahren ganz allgemein «in» geworden. Dannfolgt das Andererseits: «Im Toggenburg herrscht Angst vor der Zukunft. Wir leben vomTourismus und von der Landwirtschaft. Beiden gehts nicht gut.» Man fühle sich alsArmenhaus – und wenn Avenir Suisse dann noch empfehle, die Randregionen fallen zu lassen,sehe alles noch schwärzer aus. «Den Frust über diese Situation», so Roth,«projizieren die Toggenburger jedoch nicht auf die neoliberale Politik, sondern auf dieAusländer.» Roths Fazit: «Je ärmer das Tal, umso besser funktioniert derSündenbock-Mechanismus.» Insofern, so Roth, «hat der Fall von Unterwasser einepolitische und wirtschaftliche Einbettung».

Tatsache ist: Die St. Galler SVP, die vor den letzten Wahlen mit dem Slogan «WirSchweizer sind immer die Neger» eine besonders griffige Sündenbock-Parole kreierthatte, ist inzwischen die stärkste Partei im Toggenburg. Freilich: Nur schon derGedanke, es könne einen «noch so dünnen Verbindungsfaden» zwischen der SVP-Politikund den Vorfällen in Unterwasser geben, sei «eine Zumutung», wettertSVP-Kreispräsident Robert Brem.

Möglich, dass dies nicht alle SVP-Wähler so sehen. Peter Roth sagt: «Ich stauneeinfach, wie viele SVP-Anhänger und-Sympathisanten an den Kundgebungen teilnehmen. DerFall ist ihnen eingefahren. Insofern glaube ich, dass er eine reinigende Wirkung hat.»Eine Erinnerungstafel wie Simon Ammann wird Familie Michel wohl trotzdem nie erhalten.Jörg Michel wäre schon zufrieden, wenn der Fall nicht so schnell vergessen ginge, wiesich das manche im Tal wünschen. Er hoffe, dass der Fall die Bevölkerungsensibilisiert. Allein aus diesem Grund mache er auch «den ganzen Medientürk» mit.