Neonazi-Mord: Der ganz normale Hass

SonntagsZeitung

Was in Unterseen passierte, sagen Experten, hätte überall in der Schweiz geschehen können

VON DIETER STAMM UND PETER BADER

BÖDELI/INTERLAKEN – Ängstlich und verschüchtert muss die Bevölkerung im Bödeli sein, dem Landstrich zwischen Thuner- und Brienzersee. In der Gegend sollen sich über hundert Rechtsgesinnte herumtreiben, die vor Gewalt nicht zurückschrecken, schrieb der «Blick». Eine Woche ist vergangen, seit Gewissheit herrscht über den brutalen Mord an Marcel von Allmen, der sich in seinen letzten Monaten in der rechtsextremen Szene aufgehalten hat. Im Hüsi-Pub von Interlaken hat man zwei der vier Täter festgenommen, und in der Öffentlichkeit ist der Eindruck eines braunen Lokals entstanden, in dem sich die Glatzen die Türklinke reichen. An diesem Donnerstagabend sitzen ein halbes Dutzend Jugendliche in Pul-lovern und Jeans vor dem TV-Gerät und freuen sich über den Sieg des SC Bern. Das Ambiente ist international: Man trinkt australisches Bier, an der Theke sitzen amerikanische Touristen, und an der Türe hängt das Bild des Snowboarders Ueli Kestenholz, der hier verkehrt. Das Hüsi macht den Anschein eines Landpubs, wie es unzählige gibt – von brauner Horde keine Spur. Doch ein flüchtiger Eindruck kann nie die ganze Wahrheit sein, zumal die rechtsextreme Szene im Zeitalter des Internets «sehr flexibel» geworden ist, wie Hans Stutz, Journalist und Experte in Sachen Rechtsextremismus, sagt: Grenzenlose elektronische Strukturen lösen zunehmend die überblickbaren, lokalen Gruppierungen ab. Ein «glatzenloses» Hüsi-Pub beweist nichts. «Naiv, wer glaubt, in der Zeit nach der Festnahme an Ort und Stelle noch Rechtsextreme anzutreffen», sagt Stutz. Und natürlich muten vor diesem Hintergrund die jetzigen Anstrengungen der Polizei, auf dem Gebiet des Bödeli eine rechtsextreme Szene zu finden, müssig und überholt an. In Interlaken und dem unmittelbar angrenzenden Unterseen ist die Fremdenfeindlichkeit wie überall: In manierlicher Weise vorgetragen ist sie längst akzeptiert, und an den Stammtischen verzeiht man auch schon mal etwas Deftigeres. Die Liebe zu den Ausländern beschränkt sich im Wesentlichen auf Touristen, die ein gutes Stück Einkommen sichern, und man weiss zu unterscheiden zwischen «guten Ausländern, die arbeiten, und anderen», wie es einer ausdrückt.

Von Allmens üble Sprüche gegen Fremde sind mehrfach bezeugt

Natürlich gibt es auch die Verharmlosung: «Nur weil er ab und zu über die Ausländer hergezogen ist, war er doch noch lange kein Rechtsextremer», sagt ein Bekannter des ermordeten Marcel von Allmen, und in der Runde der Jugendlichen bleibt die Aussage unwidersprochen. Dabei stehen von Allmens Kontakte zur rechtsextremen Szene ausser Frage, und seine «üblen rassistischen Sprüche» sind mehrfach bezeugt. Die Zunahme des Rechtsextremismus läuft parallel zur Zunahme der Fremdenfeindlichkeit, sagt Strafrechtler Marcel A. Niggli. Aber latente Fremdenfeindlichkeit ist kein Phänomen der Gegend auf dem Bödeli. Niggli hat in einem Interview mit der Zeitung «Der Bund» die Vorkommnisse rund um den «Fall von Allmen» unlängst in einen grösseren, für die Gesellschaft wenig schmeichelhaften Zusammenhang gestellt: «Ausländerfeindliche Politik ist heute eine akzeptierte Politik.» An der Fassade des Asylbewerberheims von Unterseen gibt es nicht eine einzige Schmiererei; keine Scheibe, die in den letzten zehn Jahren in die Brüche gegangen wäre. Nicht ganz ohne Grund gibt man sich in der kleinen Ortschaft, wo das Opfer und drei der vier Täter aufgewachsen sind, überrascht, plötzlich im Rampenlicht rechtsextremer Thematik zu stehen. Immerhin sind hier keine rassistisch motivierten Übergriffe aktenkundig; auch Hans Stutz, der über ein eindrückliches Archiv verfügt, muss diesbezüglich passen. «In Bern werden unsere Bewohner schon mal angemacht», sagt Kurt Schranz, seit zehn Jahren Leiter des Heims, «aber hier in Unterseen nicht.» Und Gemeindepräsident Simon Margot sagt stolz: «Eine beantragte Einbürgerung ist in Unterseen noch nie abgelehnt worden.»

Die Existenz von Rechtsextremen in der Gegend leugnet niemand mehr

Aber auch wenn alles darauf hinweist, dass es keinen militant aktiven Rechtsextremismus gibt auf dem Bödeli: Die Existenz rechtsextremer Exponenten aus den eigenen Reihen mag seit dem schrecklichen Verbrechen niemand mehr leugnen. Es stellt sich im «Fall von Allmen» einzig die Frage, ob rechtsextreme Ideologie eine primäre Rolle gespielt hat, ob der brutale Mord also das Ende einer gewollten und gezielten Gewaltspirale war, oder ob es sich um eine persönlich motivierte Abrechnung in einem radikalisierten Umfeld gehandelt hat. Welche Motivation, fragt man sich entsetzt, kann zu einer Tat führen, die angesichts des Hergangs und der Beziehung zwischen Tätern und Opfer ganz und gar unfassbar ist? Die Ruine Weissenau liegt auf der Ebene, inmitten einer idyllischen Auenlandschaft zwischen den beiden Seen. An freien Nachmittagen spielen hier Kinder Verstecken. In der Nacht auf Sonntag, den 28. Januar dieses Jahres, töteten vier Jugendliche an diesem Ort den 19-jährigen Marcel von Allmen, den drei von ihnen seit ihrer Kindheit kannten. Danach fuhren sie mit dem Wagen in die Nähe der Beatushöhlen, beschwerten die Leiche mit Gewichten und warfen sie über eine Felswand in den Thunersee. Drei der vier Jugendlichen haben die Tat Mitte der vergangenen Woche gestanden, das Geständnis des vierten folgte am letzten Freitag. Was nur Vermutung ist, aber nach heutiger Erkenntnis wahrscheinlich: Das Verbrechen war keine Tötung im Affekt, sondern eine Hinrichtung. Warum sonst kam ein Schlagwerkzeug zum Einsatz, mit dem man einen Schädel zertrümmern kann? Warum sonst waren Gewichte zur Hand, mit denen man eine Leiche versenken kann? Warum sonst steuerten die Täter zielsicher einen der wenigen Orte an, an denen die Felswand, über die sie die Leiche warfen, nicht mit Gestrüpp und Bäumen bewachsen ist, worin sich der tote Körper hätte verfangen können? Marcel von Allmen war ganz offensichtlich ein ausserordentlich extrovertierter Mensch. Ein «Plagöri und Sonnyboy» sagen die einen, andere charakterisieren ihn als «lebensfroh und aufgestellt». Auf jeden Fall mochte er es, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Gemeindepräsident und Lehrer Simon Margot, der Marcel von Allmen unterrichtet hatte, erhebt sich, wenn er vorzeigt, wie sein einstiger Schüler im Freibad akrobatisch vom 10-Meter-Turm sprang, während unten am Bassinrand Schulkolleginnen bewundernd zusahen. Margot sagt: «Er kam eben gut an.» Sehr wohl möglich, dass ein solcher Charakter provoziert hat, zumal in rechtsextremen Kreisen, wo Hierarchien, Anpassung und Unterordnung eine bedeutende Rolle spielen. Erwiesen ist, dass es in diesem Milieu, in dem Gewaltbereitschaft latent vorhanden ist, nur wenig für eine Eskalation braucht, die man nicht für möglich halten würde: Einer der Täter hat im letzten Mai auf einen Polizisten geschossen – einfach darum, weil dieser eine Personenkontrolle durchführen wollte.