«Man kann machen, was man will, man gehört nie ganz dazu»

Migros Magazin

Der Berner Soziologe Rohit Jain erlebt fast jede Woche Rassismus – und forscht seit Jahren zum Thema. Ein Gespräch über systemische Benachteiligung, hartnäckiges Verdrängen, problematische «Mohrenköpfe» und zarte Fortschritte.

Text : Ralf Kaminski, Bilder: Ephraim Bieri

Rohit Jain, offenbar empfinden viele Menschen schon die Frage nach ihrer ursprünglichen Herkunft als rassistisch – Sie auch?

Wenn die Frage ganz zu Beginn kommt, ist sie schon irritierend. Denn die meisten Leute in der Schweiz werden das nicht gefragt. Das hängt damit zusammen, dass es immer noch eine Norm gibt, wie «die Schweizerin» oder «der Schweizer» zu sein hat: weiss zum Beispiel. Diese Vorstellung jedoch entspricht nicht mehr der Realität. 40 Prozent aller Menschen in der Schweiz haben einen Migrationshintergrund, 10 Prozent kommen aus aussereuropäischen Ländern. Letztlich steht hinter der Frage etwas anderes.

Nämlich was?

Eine Einschätzung, wer zu «uns» gehört und wer «die anderen» sind. Die Vorstellungen darüber sind historisch gewachsen und durch rassistische Annahmen geprägt.

Die Frage hinterlässt also den Eindruck, nicht ganz dazuzugehören.

Richtig. Dabei bin ich durchaus stolz auf meine indische Herkunft und mein Leben zwischen der Schweiz, Indien und anderen Orten der Welt. Aber die Herkunftsfrage ist doch ziemlich intim; ich muss Details aus meiner Biografie und Familiengeschichte preisgeben. Und ich möchte selbst entscheiden können, wann und mit wem ich diese Geschichte teile. Aber ich habe als Forscher viel Hintergrundwissen. Ich habe schon einiges erlebt und eine harte Haut – und gebe auch mal zurück wenn nötig.

Zum Beispiel?

Dort, wo ich arbeite, gibt es eine Schleuse. Kürzlich kam mir ein Mitarbeiter hinterher und fragte, was ich hier mache. Es war offensichtlich, dass er mich wegen meiner Hautfarbe «kontrollierte». Da war ich erst mal kurz fassungslos, fragte dann aber zurück, wer denn eigentlich er sei und ob ich seinen Ausweis sehen könne. Er war schon sehr verdattert, aber wies sich dann tatsächlich aus. So zu reagieren, braucht allerdings Erfahrung, Abgebrühtheit und Selbstbewusstsein.

Das zu entwickeln, hat sicherlich Zeit gebraucht.

Mit 20 hatte ich es noch nicht. Und so geht es auch heute vielen Jungen mit Migrationshintergrund. In solchen Momenten entsteht immer die schmerzhafte Erkenntnis: Man kann machen, was man will, man gehört nie ganz dazu. Dabei wäre eine Mehrfachzugehörigkeit eine Stärke, wenn die Gesellschaft dies anerkennen würde.

Wurden Sie auch schon Opfer von Racial Profiling?

Das kam schon vor, aber so richtig passe ich nicht ins Schema. Hingegen werden alle schwarzen Jugendlichen, die ich kenne, mindestens einmal pro Woche von der Polizei kontrolliert. Letztlich führt all das zu einer Form der Selbstzensur. Man fühlt sich angehalten, nach aussen ein «gutes Bild» abzugeben. Sonst heisst es wieder: Aha, typisch Ausländer!

Weshalb hält sich Rassismus so hartnäckig und so global?

Grenzziehungen zwischen «wir» und «den anderen» hat es schon immer gegeben. Aber die Einteilung von Menschen nach Wert aufgrund von Hautfarben entstand erst im Wirtschaftssystem des Kolonialismus und wurde im 19. Jahrhundert pseudowissenschaftlich unterfüttert. Diese Kriterien wirkten sich dann bei der Nationalstaatenbildung auf die Frage aus, wer dazugehört und wer nicht, wer primitiv sei und wer zivilisiert. Solche rassistischen Annahmen wurden unter anderem in Schul- und Kinderbüchern popularisiert, sie stecken in den Ausländergesetzgebungen und haben das Migrations- und Asylsystem geprägt. Wir wurden alle in eine solche rassistische Kultur sozialisiert. Das sitzt tief. Aber man kann das als Gesellschaft auch ändern, wenn man will.

Was verstehen Sie unter Rassismus?

Rassismus bezeichnet nicht Menschen mit rechtsextremer Einstellung, sondern Strukturen mitten in der Gesellschaft. Dabei handelt es sich um ein System von Vorstellungen, Institutionen und Verhaltensmustern, das Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe höhere oder tiefere Positionen in der Gesellschaft zuordnet. Dies beeinflusst, wer welche Rechte, welche Privilegien und welche Anerkennung kriegt. Die erwähnten Beispiele von Alltagsrassismus sind nur die Oberfläche dieser komplexen Maschine und passieren oft unbewusst.

Wie funktioniert diese Maschine?

Zentral ist Bildung. Studien zeigen, dass in der Schweiz die Wahrscheinlichkeit, aus einem tiefer qualifizierten Milieu aufzusteigen, zweieinhalbmal kleiner ist, wenn mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde.

Weshalb?

Weil man diesen Kindern in Schulen zum Beispiel sagt: «Schau, du bist ein gescheites Mädchen, aber das Gymnasium ist wohl zu anspruchsvoll für dich, weil dir deine Eltern ja nicht helfen können. Mach doch lieber eine Lehre, dabei wirst du glücklicher.» Oder dann werden in Prüfungen Fragen gestellt, die ein bestimmtes kulturelles Vorwissen voraussetzen – zum Beispiel die Kenntnis von Grimm-Märchen. Dieses kulturelle Kapital bekommt man vor allem in weissen, bürgerlichen Familien mit. Solche Mechanismen führen dazu, dass Kinder aus migrantischen Familien tendenziell in niedriger qualifizierten Jobs landen. Das ist im Alltag auch deutlich sichtbar, wenn man etwa schaut, wer in Beizen serviert und in Spitälern pflegt. Würden alle Migrantinnen und Migranten zwei Tage streiken, wäre die Schweiz weitgehend lahmgelegt.

Gibt es noch andere Beispiele?

Die Wahrscheinlichkeit, eine Lehre zu bekommen, ist zwei- bis zweieinhalbmal geringer, wenn man einen muslimisch oder aussereuropäisch klingenden Namen oder eine dunkle Hautfarbe hat. Man muss sich mal vorstellen, was das für die Lebens- perspektive junger Menschen bedeutet: Sie sind hier geboren, fühlen sich zugehörig, werden aber offensichtlich benachteiligt. Ganz wichtig ist aber noch etwas anderes.

Nämlich was?

Dass man all dies in der Schweiz nicht wahrhaben will und es nicht beim Namen nennt: Es geht um Ungleichheit aufgrund von strukturellem Rassismus. Wenn man dies anzusprechen versucht, hört man oft: Ach komm schon, jetzt tu nicht so heikel, das war bestimmt nicht so gemeint. Und überhaupt: Wer sich bemüht, der schafft es auch. Der Schwiegersohn meines Arbeitskollegen hat es schliesslich auch geschafft.

Der Rassismus wird also verdrängt?

Die Standardreaktion ist ein konsequentes Runterspielen. Betroffene stellen sich daher immer die Frage: Passiert das jetzt aus Rassismus, oder spinne ich? Ist es Zufall, dass ich 200 Bewerbungen geschrieben habe und meine «Bioschweizer» Kollegen nur 20? Setzt sich dieser Herr jetzt nicht neben mich im Zug, weil ich eine dunkle Hautfarbe habe? Ausserdem gibt es viel zu wenig Statistiken dazu. Ohne gute Daten kann man Ungleichheit nicht erklären und angehen. Doch die Schweiz wollte sich bis jetzt auf das Thema nie richtig einlassen.

Woran liegt das?

Ich denke, das hat mit einem verzerrten Selbstbild der Schweiz zu tun: Wir sind ein Kleinstaat, sind aus eigener Kraft reich geworden, weil wir fleissig, brav und rechtschaffen sind. Bei uns ist das Rote Kreuz beheimatet, wir machen Friedensdienste. All diese Mythen, die sich nur deshalb halten können, weil vieles ausgeblendet wird: Kriegsmaterialexporte, Nazi-Gold, die koloniale Vergangenheit und Migration tragen eben auch zum Wohlstand bei. Dieses Selbstbild aufzugeben, wäre schmerzhaft.

War es gut, dass die Migros diesen Sommer die «Mohrenköpfe» eines bestimmten Herstellers aus dem Sortiment entfernt hat?

Ja klar. Und es hat mich ehrlich erstaunt, wie gross die Empörung darüber war. Spannend ist, wie viele dabei argumentierten: «Ja, haben wir denn wirklich keine wichtigeren Probleme? Das ist doch nur ein Wort.» Genau! Und wenn es nur ein Wort ist, dann wäre es doch easy, es einfach zu ändern. Es gibt ja mit «Schokokuss» eine etablierte Alternative. Ganz offensichtlich geht es um viel mehr als ein Wort. Nämlich um die Fragen, wer zur Schweiz gehört, wer das definiert.

Der besagte Hersteller will den Namen nicht ändern.

Richtig, dabei wurde er schon oft gebeten, dies zu tun. Das heisst, es stört Herrn Dubler nicht, damit Menschen bewusst zu verletzen. Und ganz viele in der Schweiz finden das offenbar okay. Die Frage ist, ob sie sich da nicht im medialen Kampf gegen die politische Korrektheit instrumentalisieren lassen. Dabei versuchen Minderheiten doch einfach, mehr Mitsprache zu erhalten. Entscheidet man sich bewusst, einen solchen Namen zu verteidigen, ist das auch eine politische Botschaft.

Hat ein dunkelhäutiger Teenager es heute leichter als Sie damals?

Schwer zu sagen. Der Druck in der Arbeitswelt ist heute eher höher, und ich bin nicht mit pausenlosen SVP-Kampagnen aufgewachsen, die einem ständig signalisieren, nicht dazuzugehören. Auf der anderen Seite gibt es heute in den Quartieren und auf den Schulhausplätzen eine Art postmigrantische Kultur und Gemeinschaft – das gab es früher weniger. Und daraus entsteht nun auch Gegenwehr. Die Schweizer Demonstrationen zu «Black Lives Matter» haben mich schwer beeindruckt. Da engagierten sich 20-Jährige mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit. Generell gab es einen Ruck durch die Gesellschaft – ich laufe heute anders durch Bern als vorher.

Tatsächlich? Dann könnte sich diesmal wirklich etwas bewegen?

Ich hoffe es. Die Frage ist, wie diese Forderungen nun von der Strasse in die Institutionen getragen werden können, damit sich die politische Kultur tatsächlich verändert. In den Parlamenten, den Redaktionen, den Lehrerzimmern oder Fakultäten sollten mehr nicht-weisse Menschen mit Migrationshintergrund sitzen. Das hätte eine Riesenvorbildfunktion.

Erneut also die Frage: Wer gehört dazu?

Genau. Wem das Gefühl gegeben wird, nicht dazuzugehören, der ist weniger motiviert, sich für das Land zu engagieren. So gesehen nutzt die Schweiz ihr Potenzial nicht. Wir sollten uns dieser Auseinandersetzung stellen, um die Innovationskraft des Landes zu erneuern. Konkret würde das heissen, die Schweiz als Einwanderungsland mit kolonialer Geschichte anzuerkennen und die Karten der Teilhabe neu zu mischen. Das wäre eine Riesenchance, macht aber vielen Angst. Ich kann die Angst nachvollziehen, aber gehört das nicht zu Veränderung?

Immerhin scheint es auch in der Schweiz nun Bewegung zu geben.

Ich bin optimistisch, es tut sich was. Entscheidend jedoch ist, erst mal durch diese Teflonschicht zu dringen, damit überhaupt allen klar wird, dass Rassismus ein gesellschaftliches Problem ist. MM

«In der Schweiz will man den strukturellen Rassismusoft nicht wahrhaben.»

«Wir brauchen mehr nicht-weisse Menschen in wichtigen Positionen.»

Laufendes Projekt: schwarzenbach-komplex.ch

Migrations- und Rassismusforscher

Der Sozialanthropologe Rohit Jain (42) forscht unter anderem am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Daneben organisiert er rassismuskritische Humorfestivals oder Late-Night-Shows. Jain ist in Bern geboren und aufgewachsen, als Sohn indischer Eltern, die Ende der 1960er-Jahre in die Schweiz kamen. Er hat zwei Kinder und lebt in Bern.