Hassattacke der Verlierer

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Wie gefährlich ist Kritik an Bundesrat Christoph Blocher? Seit Georg Kreis in FACTS die Abwahl des Justizministers forderte, wird der Historiker mit dem Tod bedroht. Auch Parlamentarier werden immer häufiger zur Zielscheibe von verbalen Gewalttätern. Die politische Kultur verroht. Von Othmar von Matt und Christof Moser

Die Reaktionen reichen von Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen. Nur die harmloseren Zuschriften lassen sich zitieren. «Nun reicht es, du elendes und abscheuliches linkes Schwein», schrieb jemand anonym. V. G. aus H. verschickte seine verbalen Entgleisungen mit Absender: «Gewiss», liess er Georg Kreis wissen, «wird es bald einmal geschehen (), dass Ihnen auf offener Strasse eins auf Ihre linke, geistesarme und blöde Fresse gehauen wird.»

Seit der Basler Historiker Georg Kreis in FACTS die Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher forderte, erlebt er Beschimpfungen und Bedrohungen in einem Ausmass wie nie zuvor; und Kreis ist sich als Präsident der Antirassismuskommission einiges gewohnt. Als er vergangenen Samstag am Flüchtlingstag auf dem Waisenhausplatz in Bern auftrat, musste die Berner Stadtpolizei zu seinem Schutz «entsprechende Dispositionen» treffen, wie Stefanie Gerber, Sprecherin der Berner Stadtpolizei, bestätigt.

Kritik an Christoph Blocher kann lebensgefährlich sein. «Es hat eine Enthemmung stattgefunden», sagt Kreis. Was der Blocher-Kritiker derzeit erlebt, sorgt bei Parlamentariern hinter vorgehaltener Hand längst für Besorgnis. Telefonterror zu jeder Tages- und Nachtzeit, Beschimpfungen in Briefen und Mails, die oft nicht einmal anonym gehalten sind, Morddrohungen, zugeschickter Kot, verbalsexuelle Belästigungen, Stalking: «Die Schweizer Politik erlebt eine Brutalisierung», sagt CVP-Nationalrätin Ruth Humbel. «Politiker werden im Privaten immer stärker bedrängt», sagt Grünen-Präsidentin Ruth Genner. Christophe Darbellay stellt fest: «Viele Leute haben absolut keine Hemmungen mehr.» Der CVP-Präsident spricht «von einer tragischen Entwicklung in der ältesten Demokratie der Welt».

Mehrere Parlamentarier wandten sich in den letzten Wochen an den Bundessicherheitsdienst oder schalteten die Polizei ein, wie sie gegenüber FACTS bestätigen. Einer trug bei einem Auftritt eine schusssichere Weste. Offen sprechen darüber nur wenige. Etwa Ruth Genner: «Letzte Woche übergab ich ein ganz gemeines Beschimpfungsschreiben auf Anraten der Parlamentsdienste dem Bundessicherheitsdienst.» Oder CVP-Nationalrätin Chiara Simoneschi. Sie erhielt eine schriftliche Gewaltandrohung «wie noch keine zuvor» und übergab den Brief ebenfalls dem Bundessicherheitsdienst.

Über die Aggressionen gegenüber Bundespolitikern haben die Parlamentsdienste kürzlich eine Umfrage gemacht. 75 Prozent der 246 Parlamentarier machten mit, 80 gaben an, Beschimpfungen und Drohungen ausgesetzt zu sein. Massiv erhöht habe sich «in den letzten Monaten die Qualität der Aggressionen», sagt Mark Stucki, Sprecher der Parlamentsdienste. «Blieb es noch vor zwei Jahren bei Beschimpfungen, sind wir selbst darüber erschrocken, wie brutal die Todesdrohungen inzwischen ausfallen.»

Das erfuhr auch Ruth Humbel. Nachdem sie vor einigen Wochen höhere Krankenkassenprämien für Dicke gefordert hatte, wurde sie zur Zielscheibe. Sogar mitten in der Nacht nahm sie am Telefon Todesdrohungen entgegen. «Wir bringen deine Familie um», tönte es aus dem Hörer. «Du wirst in der Gaskammer oder auf dem Scheiterhaufen enden», stand in hasserfüllten E-Mails. «Ich bin entsetzt über diese aggressive, verbale Gewalt», sagt Humbel. «Ich nehme nicht jede Drohung ernst. Aber man fragt sich schon, was wäre, wenn plötzlich einer durchdreht. Das macht mir Angst. Zu Hause angerufen, beschimpft und bedroht zu werden, ist beklemmend. Ein Restrisiko bleibt.»

Nach dem Erlebten bleibt für Humbel eine bittere Erkenntnis: «Die politische Kultur verroht. Mein Bild einer Schweiz, in der fair um Ideen gekämpft wird, ist nach dieser Erfahrung beschädigt.»

Woher kommt dieses immer heftigere Klima von Aggression und Einschüchterung? «Verbale Gewalt», sagt Humbel, «ist eine Folge von Plakataktionen, die nur schwarzweiss zeichnen, von Parteiexponenten, die alle ausgrenzen, die nicht so denken wie sie selbst.»

Nicht nur für sie ist damit klar: Brandstifterin ist die SVP. «Wer heizt das Klima an, das Grobheit als Ehrlichkeit verherrlicht?», fragt Georg Kreis rhetorisch. Für ihn sind Stiefel- und Messerstecherinserate der SVP in ihrer Kombination von Bild und Text «Teil der Brutalisierung». Es sei der «gigantische Kampf um die Schweiz», die es «auch dem kleinsten Geist» erlaube, «den grössten Dreck herauszulassen». Kreis: «Weil es darum geht, den heiligen Blocher zu verteidigen.» Die gemässigten SVPler blieben zusammen mit der breiten bürgerlichen Mitte sonderbar stumm.

SP-Nationalrätin Hildegard Fässler beschuldigt die SVP, sie verschiebe «die Salonfähigkeit der Diskussionen immer stärker an die Grenze». SP-Politiker Andreas Gross, der seit Jahren mit Drohungen lebt und vor der Abstimmung über die Armeeabschaffung unter Polizeischutz gestellt werden musste, hält der SVP vor, sie «ermutige die Leute geradezu, Andersdenkende zu beschimpfen». Waren es früher noch Randfiguren wie Michael E. Dreher von der Auto-Partei, der Ende der Achtzigerjahre empfahl, Ausländer «an die Wand zu nageln und mit dem Flammenwerfer drüber» zu gehen, so sei derlei Rhetorik inzwischen bei der SVP angekommen und damit «in der Mitte der Gesellschaft». Auch das Schleifen von Institutionen wie dem Bundesgericht hält Gross für «bedenklich». Boris Banga, ebenfalls SP-Nationalrat und Stadtpräsident von Grenchen, hält es für problematisch, dass politische Gegner heute als Feinde betrachtet werden: «Ich habe von meinen politischen Lehrmeistern noch gelernt, dass alle im Interesse des Gemeinwohls handeln, auch jene, mit denen man nicht einverstanden ist. Die SVP will alle, die nicht so denken wie sie, kaputt machen.»

Wie weit SVP-Exponenten bei der Diffamierung von politischen Gegnern gehen, zeigte sich in der Rütli-Diskussion. Als in der TV-«Arena» zum Rütli SVP-Nationalrat und Auns-Chef Hans Fehr dem letztjährigen Rütli-Redner Markus Rauh, Ex-Swisscom-Verwaltungsratspräsident und Mitglied des bürgerlichen Komitees gegen die Asylrevision, die demokratische Legitimation absprach, «dort oben zu reden», und sinngemäss sagte, wer meine, auf dem Rütli für Asylanten einstehen zu müssen, dürfe sich über den Zorn der Rechtsextremen nicht wundern, musste Moderator Urs Leuthard eingreifen. Ein Zuschauer hielt Fehrs Zurechtweisung durch Leuthard für einen Programmverstoss und wandte sich an Ombudsmann Achille Casanova. Dieser sah jedoch von einer Rüge ab: «Da der Kritisierte nicht anwesend war, musste der Moderator eingreifen.» Auch Casanova, der 24 Jahre lang Vizekanzler war, stellt fest: «Die Polarisierung der Politik hat den Tonfall der Diskussionen verschärft.» Und: «Das ist ein echtes Problem für das konsensbasierte System der Schweiz.»

Bei der SVP sieht man das naturgemäss anders. Hans Fehr, der regelmässig von einem Telefonterroristen belästigt wird und schon eine Gewehrkugel zugeschickt erhalten hat, ist überzeugt, «dass die Rettung der Schweiz eine harte Auseinandersetzung» erfordere: «Wir haben lange genug zugeschaut, wie die Linken das Land kaputt gemacht haben.»

«Leute brauchen ein Ventil»

Für SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli ist am schlimmsten, wie er sagt, «die Toleranz der Toleranten». Kämen die Linken an die Macht, würden gewisse als Erstes den Kolumnisten Mörgeli einsperren, mutmasst er. «Man würde mir sagen: Hier haben Sie ein Zimmer für sich, mit schönen Gummiwänden, dazu einen Bleistift und Papier. Hier können Sie Kolumnen schreiben, so viele sie wollen. Nur geht keine mehr raus.»

«Das Klima verhärtet sich, wenn man Dinge, die Menschen beunruhigen, nicht anspricht, sie nicht auf den Tisch bringt», sagt Nationalrat Ulrich Schlüer. «Am gefährlichsten wird die Situation, wenn die Leute kein Ventil haben, um ihrem Unmut Luft zu verschaffen.»

Sukkurs erhalten die Exponenten der SVP von Georg Kohler, Philosophieprofessor an der Uni Zürich. Er hält nichts davon, der SVP die alleinige Schuld an der Verluderung der politischen Kultur zu geben: «Wir stecken in einem sozialen Wandel, der Verschärfungen im Stil der Auseinandersetzung mit sich bringt», sagt er im Interview (siehe Seite 18). Kohler nimmt es der SVP aber «sehr übel», dass sie sich nie gegen Rechtsextremisten abgegrenzt habe und «in den eigenen Reihen zu wenig dafür sorgt, dass die Spielregeln des demokratischen Miteinanders respektiert werden». Denn: «Die Anhänger der SVP neigen dazu, wie Winkelried aufs Ganze zu gehen, wenn sie ihre Schweiz gefährdet sehen.»

Das weiss auch Blocher, der kürzlich der «NZZ am Sonntag» über seine Anhänger sagte: «Ich habe häufig zu meiner Frau gesagt, () ich glaube, ich könnte denen eine Fackel in die Hand drücken, und sie würden das Bundeshaus anzünden.» Unter der gehässigen Stimmung in der Politik leiden nicht zuletzt die SVP-Politiker selbst. Der Aufstieg der SVP zur grössten Partei gegen den erbitterten Widerstand aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ging nicht ohne massive Angriffe auf deren Exponenten vonstatten. Nicht alle sprechen darüber. «Attacken schweigend zu übergehen, verkleinert die Angriffsfläche», sagt etwa Schlüer. «Damit bin ich gut gefahren.»

Offener geben sich Ueli Maurer und Oskar Freysinger. «Zu Beginn meiner Zeit als Präsident war es am schlimmsten», sagt Maurer ? stets sei er in der Satiresendung von Viktor Giacobbo als Knecht Christoph Blochers dargestellt worden. «Damals wurde ich mitten auf der Zürcher Bahnhofstrasse angespuckt.» Noch immer erhält der SVP-Präsident wöchentlich Drohungen bis hin zu Mord, «aber», sagt er, «ich habe mich daran gewöhnt».

Freysinger staunt darüber, dass er den Aufstieg vom totalen Buhmann zum mehr oder minder respektierten Politiker geschafft hat. Als der Walliser 2003 die nationale Bühne betrat, galt er schnell als «Lügennase», «Pissoir- und Pornopoet» («Blick»). Todesdrohungen, Graffito an der Schule, an der er unterrichtet («Freysinger gleich Hitler»), Strafanzeigen gegen ihn, ein Brandanschlag mit 100 000 Franken Schaden: «Systematisch hat man versucht, mich zu zermürben, weil man glaubte: Geht Freysinger unter, ist das auch das Ende der SVP Wallis», sagt er. «Das war harte Kost, es brauchte Nerven wie Drahtseile.» Ein Kränzchen windet Freysinger ? paradoxerweise ? den Medien, die ihm mit Kampagnen zugesetzt hatten. «Heute schützt mich die starke Medienpräsenz. Wer in Gefahr gerät, muss sichtbar bleiben. Erst im Schatten droht die Gefahr, abgemurkst zu werden.»

Weniger positiv beurteilen andere Parlamentarier die Rolle der Medien. «Stellen einen die Medien als Löli dar, animiert das die Zuseher, sich ebenfalls respektlos zu benehmen», sagt Ueli Maurer. «Heute», sagt er, «spüre ich Respekt.» Die Medien personalisierten «mehr und mehr», sagt Ruth Genner, und das führe verstärkt zu Aggressionen gegen die dargestellten politischen Exponenten. Auch SP-Nationalrätin Hildegard Fässler macht die Medien mitverantwortlich dafür, dass die Grenzen des Respekts löchrig geworden sind ? allen voran in der «Arena». Fässler: «Hier durfte man Bundesräten ungestraft Schlötterlinge anwerfen. Daran nahmen sich viele ein Vorbild.» Unmittelbar nach «Arena»-Auftritten habe sie oft hässliche Briefe erhalten, die adressiert gewesen seien wie die Einblender in der Sendung: «Hildegard Fässler, SP-Nationalrätin, Bern».

Mit welcher Verbissenheit die Bedroher und Belästiger vorgehen, zeigen Beispiele, an denen sich verschiedene Kategorien von Aggressionen gegen Politiker dokumentieren lassen:

Gewalt- und Morddrohungen: Sie erfolgen meist schriftlich oder per Telefon. «In solchen Fällen besprechen wir mit den Betroffenen Massnahmen bis hin zu Personenschutz», sagt Guido Balmer, Sprecher des Bundesamts für Polizei.

Beschimpfungen: Fast alle Politiker erhalten Hassbriefe und -E-Mails. Hasserfüllte Reaktionen erfolgen meist nach öffentlichen Auftritten zu emotional aufgeladenen Themen wie Frauen, Ausländer, Atomkraftwerke und Blocher.

Belästigungen: Die häufigsten Formen sind Telefonterror, Mail-Terror und das Bestellen von Artikeln im Namen des Politikers. SVP-Nationalrat Hans Fehr etwa erhält täglich bis zu drei Anrufe von einer 035-Nummer ? zu allen Tages- und Nachtzeiten. Die halbe SP-Fraktion erhält täglich bis zu 15 Mails von einem Walliser. Oft erhalten Politiker Kot, gebrauchtes Toilettenpapier und Pornoartikel zugeschickt. Ueli Maurer erhielt vor kurzem kistenweise Umweltschutz- und Anti-Atomkraftwerk-Bücher zugestellt. Wert: rund tausend Franken. Maurer: «Es dauerte drei Wochen, bis ich das Problem gelöst und den Lieferanten davon überzeugt hatte, sie nicht selbst bestellt zu haben.»

Reden ist aussichtslos

Dass weder die SVP noch die Medien allein an der rapid sinkenden Hemmschwelle schuld sind, sondern dahinter eine gesellschaftliche Entwicklung steht, ist allen befragten Politikern klar. In der Bevölkerung seien viele Ängste vorhanden, das Klima sei generell aggressiver geworden, urteilt Laura Sadis, die im Tessin einen harten Wahlkampf gegen Marina Masoni hat durchstehen müssen. Gleichzeitig werde Geld als Erfolgssymbol immer wichtiger. Sadis: «Wir verlieren ein bisschen unsere Menschlichkeit.» In einer Zeit, in der die Menschen sofortige Lösungen für alles erwarteten, leide die Politik daran, dass sie «langsam ist».

Historiker Kreis spricht davon, dass die Aggression die Folge einer herbeigeredeten Entwicklung ist: «Der Kampf eines jeden gegen den anderen wurde zur Tugend erklärt. Es herrscht Ellbogen-Mentalität und Wettkampf. Man verschafft sich Aufwertung, wenn man den anderen niedermacht.»

Wie aussichtslos es sein kann, mit verbalen Gewalttätern Argumente auszutauschen, zeigt sich beim Versuch, mit jenem V. G. aus H. in Kontakt zu treten, der Kreis in einer E-Mail bedrohte:

FACTS: Guten Tag, Herr G., hier ist das Nachrichtenmagazin FACTS. Es geht um Ihr Mail an Herrn Kreis.

V. G.: Aha. (Schweigen) Wir sind gerade am Nachtessen, haben Gäste. Können Sie in einer Stunde wieder anrufen?

Eineinhalb Stunden später.

FACTS: Guten Tag, Herr G., hier ist nochmals FACTS. Es geht um das Mail an Herrn Kreis

V. G.: Ich habe Herrn Kreis gesagt, es sei höchste Zeit, dass er sich unter psychiatrische Obhut begebe. Mit Ihnen diskutiere ich das nicht. (Legt den Hörer auf.) ?

Es sind Loser, die Macht wollen

Philosophie-Professor Georg Kohler über die politische Verluderung, die Schuld der SVP und ihr Abgrenzungsproblem zu den Rechtsextremisten.

FACTS: Morddrohungen gegen Politiker nehmen zu. Warum?

Georg Kohler: Den verbalen Gewalttätern fehlt die positive Identifikation mit dem Land und seiner politischen Kultur. Es sind Loser, die Winner sein wollen, Ohnmächtige, die ihr Bedürfnis nach Macht befriedigen. Stellen Sie sich vor, was Lee Harvey Oswald, ein kleiner Verlierer, für ein Gefühl gehabt haben muss, als er auf Kennedy zielte und traf.

FACTS: Wie viel braucht es, damit aus verbalen Gewalttätern Attentäter werden?

Kohler: Alarmismus ist nicht angebracht. Viele der Drohungen sind nicht ernst zu nehmen, sie sind aber auch kein harmloses Spiel. In den Niederlanden hat der Mord an Theo van Gogh gezeigt, wie schnell das politische Klima in einem Land, das sich für seine Toleranz rühmte, umschlagen kann.

FACTS: Ist die Verluderung der Polit-Kultur gefährlich?

Kohler: Die Zersetzung der politischen Kultur ist zumindest Besorgnis erregend, weil sie ein Schutzdamm ist gegen Konfliktlagen, wie wir sie aus der Geschichte kennen. In den Zwanziger- und Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts gingen in Europa politisch motivierte Schlägerbanden aufeinander los. Wir leben heute also in Verhältnissen, die es zu verteidigen lohnt.

FACTS: Wer trägt die Verantwortung für die Verluderung?

Kohler: Die Formen des politischen Umgangs haben sich seit dem Fall der Mauer verschärft. Der Kampf gegen den Kommunismus hat die Gesellschaft geeint; in der ökonomisierten Welt von heute kämpft jeder gegen jeden. In Nachmittags-Talkshows wird der grausame Wettbewerb um Aufmerksamkeit zelebriert, die Härte der Rap-Szene ist massentauglich geworden. Die Hemmungslosigkeit nimmt zu.

FACTS: Was bedeutet das für die direkte Demokratie?

Kohler: In einer Demokratie dürfen aus Gegnern nicht Feinde werden. Das Finden von Kompromissen ist die Basis der erfolgreichen politischen Kultur unseres Landes. Der Wunsch nach Intensität hat die politische Arena erreicht. Das ist nicht nur schlecht, solange Andersdenkende nicht diffamiert werden.

FACTS: Besonders hoch gehen die Emotionen, wenn Blocher ein Thema ist. Warum?

Kohler: Blocher und seine SVP verstehen es am besten, das Bedürfnis der Menschen nach Klarheit und Identifikation zu befriedigen. Die Partei sieht sich als Vertreterin der einzig richtigen Sache, zelebriert ein apokalyptisches Entweder-oder. Das ist eine legitime Strategie im Polit-Marketing, führt jedoch dazu, dass sich die Anhänger von Kritik an der Partei oder an Blocher, der für viele eine Identifikationsfigur ist, persönlich betroffen fühlen. Die Anhänger der SVP neigen dazu, wie Winkelried aufs Ganze zu gehen, wenn sie ihre Schweiz gefährdet sehen.

FACTS: Also ist die SVP an der Verluderung schuld?

Kohler: Ich halte es für falsch, allein der SVP die Schuld dafür zu geben. Wir sollten nicht wehleidig sein. Wir stecken in einem sozialen Wandel, der allgemein Verschärfungen im Stil der Auseinandersetzung mit sich bringt. Die SVP wurde immer wieder in Stil-Diskussionen verwickelt, um von den Inhalten ihrer Politik abzulenken. Ich nehme der SVP jedoch sehr übel, dass sie sich nie gegen Rechtsextremisten abgegrenzt hat und in den eigenen Reihen zu wenig dafür sorgt, dass die Spielregeln des demokratischen Miteinanders verteidigt werden. Wer die Demokratie verteidigen will, wer sich wie Blocher als Liberaler sieht, muss zuerst einmal Andersdenkende und ihr Recht anerkennen. Die SVP, die mit der modernen Massenkultur am besten zu spielen versteht, hat hier eine besondere Verantwortung. mos

Georg Kohler, 62

Der Hochschullehrer ist seit 1994 an der Universität Zürich ordentlicher Professor für Philosophie mit Schwerpunkt politische Philosophie. Er ist verheiratet und lebt in Zürich.

Wahlbarometer

Blocher ist nur für 38 Prozent wählbar

Der härtere Ton in der Politik rührt auch daher, dass die Figuren im Bundesrat die Wählerinnen und Wähler polarisieren. Das zeigt sich in Umfrageergebnissen.

Das Meinungsforschungsinstitut Isopublic wollte wissen, welches Image die sieben Bundesrätinnen und Bundesräte im Volk haben, und befragte dazu über 500 Wählerinnen und Wähler. Zusätzlich stellte Isopublic letzte Woche im Auftrag von FACTS die Sonntagsfrage: 502 Befragte gaben an, welchen Bundesrat sie bei einer Volkswahl wählen würden. Einerseits fördern die Resultate interessante Unterschiede in der Image-Wahrnehmung zu Tage, anderseits spiegeln sie die Polarisierung in der Polit-Landschaft, die laut Beobachtern wie Ex-Vizekanzler Achille Casanova für das rauere Klima verantwortlich ist. So wird Bundesrat Blocher eine markante Persönlichkeit, hohe Durchsetzungsfähigkeit und aussergewöhnliches Durchstehvermögen attestiert, aber nur 38 Prozent würden ihn bei einer Volkswahl wählen. Wenig Sorgen um ihr Image braucht sich Micheline Calmy-Rey zu machen. Am besten abschneiden bei einer Volkswahl würde Doris Leuthard und am schlechtesten Pascal Couchepin.