Aktenzeichen Rütli ungelöst

 

Der Bund vom 31.07.2010

Am 1. August vor drei Jahren gab es auf dem Rütli eine Explosion. Schnell schien der Täter gefasst. Doch dann behinderte der Geheimdienst die Justiz.

Thomas Knellwolf

 

Der sonnige Nationalfeiertag 2007 auf dem Rütli, einer wie aus dem Bilderbuch, endete mit einem Knall. Eine Explosion erschreckte die Festgemeinde, die sich die Rede von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey angehört hatte. Eine Petarde, ausgelöst per Zeitzünder, riss ein Loch in die nationale Wiese. Verletzt wurde niemand, weil durch Zufall kein Besucher am Ort der Detonation stand.

Einen Monat später kam es in einer Nacht in der Innerschweiz zu drei Anschlägen auf die Briefkästen von Mitgliedern der Rütli-Kommission. Naheliegend schien eine Urheberschaft aus dem rechtsextremen Milieu, das von der offiziellen 1.-August-Feier am Vierwaldstättersee ausgeschlossen worden war. Doch die Fahnder tappten in der Suche nach dem sogenannten Rütli-Bomber zuerst im Dunkel. Bis ihnen der Inlandgeheimdienst einen Hinweis lieferte. Einen Hinweis auf einen Mann asiatischer Herkunft, der unbedingt Schweizer und noch mehr Schweizer Soldat werden wollte, aber nicht durfte.

Eine «gefährliche Person»

Hatte sich hier ein Gekränkter und Verrückter an der Eidgenossenschaft zu rächen versucht, die ihm die Einbürgerung zweimal verweigert hatte? Alles schien zu passen. Wenigstens aus Sicht des – seither im Nachrichtendienst des Bundes aufgegangenen – Inlandgeheimdiensts. Jürg Bühler, heute Vizedirektor des fusionierten Nachrichtendiensts, teilte der Bundeskriminalpolizei schriftlich mit, «der Genannte sei ein Waffennarr und habe eine Vorliebe für Kampfausbildung und militärische Operationen». Er verfüge über eine «Grundausbildung in Nahkampf, Taktik und Sprengtechnik», weil er in der französischen Fremdenlegion gedient habe.

«Aufgrund seiner Leidenschaft», heisst es im Schreiben, das dem «Bund» vorliegt, weiter, «dürfte er im Besitz von diversem Armeematerial, Waffen, Munition und ev. sogar Sprengstoff sein». Der Handwerker werde «von seiner Umgebung als gefährliche Person eingestuft, welche in einer eigenen Welt lebe und den Sinn zur Realität verloren habe».

Ein Jahr in Untersuchungshaft

Der so Beschriebene wurde festgenommen und blieb beinahe ein Jahr lang in Untersuchungshaft. Dann kam er frei. Er beteuert, nicht das Geringste mit den Rütli-Taten zu tun zu haben. Mit Angehörigen wehrt er sich gegen die Anschuldigungen aus der Fiche des Nachrichtendiensts, von denen er lange nichts gewusst hatte. In den dortigen Vorwürfen vermutet die Familie den Hauptgrund, dass der in der Schweiz und in Nordamerika Aufgewachsene im Gegensatz zu seinen nächsten Verwandten den roten Pass nie bekam.

Besonders schwer wiegt die Bemerkung im Schreiben von Geheimdienst-Vizedirektor Bühler, der junge Mann aus gutem Hause sei verdächtigt worden, «er habe eine Rohrbombe gebaut und diese in Toronto anlässlich einer Protestaktion detonieren lassen». Bühler schliesst mit den Worten: «Dieser Bericht ist gerichtsverwertbar.»

Der Bericht lässt unerwähnt, dass es in Kanada wegen eines Anschlags nie zu einer Verurteilung kam. In der Boulevardpresse hiess es jedoch, der Verdächtige habe eine terroristische Vergangenheit. «Die entspricht nicht dem, was aktenkundig ist», sagt der Eidgenössische Untersuchungsrichter Hans Baumgartner, der die Ermittlungen leitet.

Aktenkundig und unbestritten ist hingegen, dass der Verdächtige im Alter von 19 Jahren in Kanada mit drei Handgranaten im Rucksack unterwegs war, als er festgenommen wurde. Bei Hausdurchsuchungen wurde ein kleines Arsenal mit Waffen, Munition und Sprengstoff gefunden. Wegen illegalen Besitzes von Waffen und Sprengstoff wurde der Jüngling damals zu einer Haftstrafe von 15 Monaten verurteilt, die er in einer «Korrekturanstalt» absitzen musste.

Akten verschwinden

Der Schweizer Geheimdienst spielt in der ganzen Rütli-Affäre eine undurchsichtige Rolle. Er liess Akten verschwinden, wie die «Weltwoche» aufdeckte. Akten, auf denen die Beschuldigung gegen den Verdächtigen einzig und alleine beruht. Merkwürdiges ereignete sich einen Monat nach den Anschlägen in der Innerschweiz im Aargau: Am 7. September 2007 kam ein Unbekannter auf den Polizeiposten in Baden. Ab 20 Uhr wurde er eineinhalb Stunden lang einvernommen. Er sagte aus, er sei ein Bekannter des Militärfreaks und habe ihm Sprengstoff, «etwas zum Bombenbauen oder ähnlich», beschafft.

Am Tag darauf zogen die Aargauer den Inlandgeheimdienst bei. Die angereisten Geheimdienstler nahmen den Zeugen unter ihre Fittiche und wiesen den Polizisten an, das Protokoll auszuhändigen und alle Unterlagen zu vernichten. Sie leiteten die beschlagnahmten Unterlagen aber nicht an die Ermittler des Bundes weiter. Auch über die Identität des Zeugen weiss der Leiter der Strafuntersuchung nichts – bis heute.

«Seit bald einem Jahr warten wir auf die Unterlagen, die für das weitere Vorgehen von zentraler Bedeutung sind», sagt Untersuchungsrichter Hans Baumgartner. Um die geheimen Akten liefert er sich mit dem Nachrichtendienst einen Kompetenzstreit. Die zeitraubende Auseinandersetzung der beiden Bundesstellen weist Parallelen zum Atom-Fall Tinner auf: Dort haben die Nachrichtendienstler mit Segen des Bundesrates Dokumente vernichtet, vermutlich weil die US-Regierung darauf bestand. Beim Rütli-Fall liessen sie die Akten in ihren Geheimschränken verschwinden und wollen sie partout nicht herausrücken.

«Stinkt zum Himmel»

Der Nachrichtendienst macht geltend, er müsse eine Quelle schützen. Im Behördenzwist muss nun der Bundesrat ein Machtwort sprechen. Das Justiz- und Polizeidepartement macht sich für die Aktenherausgabe stark. Nicht bekannt ist, wie sich Sicherheitsminister Ueli Maurer in dieser rechtsstaatlich heiklen Frage positioniert. Ihm ist der Geheimdienst unterstellt.

«Die Sache stinkt zum Himmel», sagt der Berner Rechtsanwalt Alexander Feuz, der den Angeschuldigten vertritt. Fürsprecher Feuz und sein Klient unterstützen die Begehren des Untersuchungsrichters um Aktenzugang, obwohl sich in den geheimen Unterlagen theoretisch auch Belastendes verbergen könnte.

Feuz findet es «höchst suspekt und rechtsstaatlich bedenklich, dass ausgerechnet der Nachrichtendienst die Wahrheitsfindung verhindert und das angeblich für die Überführung des Täters entscheidende Material der Justiz vorenthält». Sein Mandant hingegen wolle dazu beitragen, dass die Wahrheit ans Licht komme.

Auf eigene Faust ermittelt

Recherchen zeigen, dass es im Verfahren weitere gravierende Umgereimtheiten gab. So vernahm die Bundeskriminalpolizei auf Eigeninitiative verschiedene Personen ein. Weder Untersuchungsrichter Baumgartner noch Strafverteidiger Feuz wussten davon. Die Protokolle der Befragungen händigten ihnen die Bundeskriminalpolizisten erst mit einiger Verzögerung aus, was Baumgartner bestätigt. Anwalt Feuz fragt sich, was mit den in seinen Augen «eher entlastenden» Gesprächsaufzeichnungen passiert wäre, wenn er nicht auf Umwegen von diesen Vernehmungen erfahren hätte.

Drei Jahre nach den Explosionen ist der Fall des «Rütli-Bombers» ungelöst. Eidgenössische Beamte haben bislang mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gefunden.